Messetagebuch VI: Friedenspreis im Ausnahmezustand

"Dann ruft der Bundespräsident an ..."

20. Oktober 2020
von Börsenblatt

Martin Schult vom Börsenverein über Wattestäbe, rettenden Galgenhumor im Risikogebiet und eine mehr als ungewöhnliche Friedenspreisverleihung an Amartya Sen.

Martin Schult verantwortet beim Börsenverein die Organisation des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Auf dem Foto oben ist er mit seiner Friedenspreis-Kollegin Katrin von Boltenstern abgegebildet.

Montag, 12. Oktober 

Kurz vor seinem sechsten Geburtstag habe ich mich über meinen Neffen lustig gemacht. Er brauchte etwas Zeit, um es zu verdauen, dann schrie er mir aus sicherer Entfernung zu: „Ich hab dich nicht mehr lieb. Und ich lade dich auch nicht zu meinem Geburtstag ein!“ 

»Ich bin doch schon eingeladen.« So gemein kann ein Erwachsener sein. 

»Dann lade ich dich wieder aus!« So gemein können Kinder sein. 

Daran muss ich denken, während ich im Haus des Buches vor einer Tür stehe und darauf warte, getestet zu werden. Im Rachen fühlt sich der Wattestab noch in Ordnung an, ein leichtes Kratzen. Ihn aber tief in der Nase zu spüren, dort, wo man selbst als Kind nie hingekommen ist, das treibt mir die Tränen in die Augen …   

Nehme ich es zu leicht? Ganz und gar nicht. Ist es Galgenhumor? Vielleicht ein wenig. Nachmittags jedenfalls schreibe ich etwa 100 persönliche E-Mails an die Gäste, die wir zuerst in die Paulskirche geladen haben, um sie heute wieder auszuladen. Auch an Klaus-Dieter Lehmann, seit vierzig Jahren jedes Mal beim Friedenspreis – das tut weh.  

Die Zahlen derjenigen, die sich mit Corona infiziert haben, steigen. Frankfurt ist zum Risikogebiet geworden. Die daraus resultierenden Reise- und Beherbergungsbeschränkungen sind die Gründe, warum wir das Publikum, das aus ganz Deutschland angereist wäre, bitten, zu Hause zu bleiben. Maßhalten ist das Zauberwort. Die meisten sind erleichtert, weil wir ihnen die Entscheidung abgenommen haben. Zwischendurch erreicht mich die Versicherung aus Berlin, dass der Bundespräsident aber kommt. 

Abends der Deutsche Buchpreis. Alles läuft glatt, der Kaisersaal sieht schön aus, die Kolleginnen haben es nun hinter sich. Ich freue mich und bin doch neidisch. Kurz darauf kommt das Testergebnis: negativ. Für etwa zwei Stunden fühle ich mich unbesiegbar. Noch sechs Tage … 

Dienstag, 13. Oktober 

Am nächsten Morgen um sechs Uhr (in Boston ist es Mitternacht) kommt der erste Redeentwurf unseres Preisträgers. Eine wichtige, fein formulierte Rede – aber das Wort Frieden fehlt. Alfred Grosser, unser Nestor unter den Preisträgern, wird mir sicher eine böse E-Mail schreiben. Er achtet sehr darauf, was seine Nachfolger*innen vortragen. Sen verspricht Abhilfe. Der Übersetzer Andreas Wirthensohn liest sich schon einmal ein. 

Nur: Wie schafft man es, angesichts einer menschenleeren Paulskirche wieder von vorne anzufangen? Wir können die drei Redner*innen vor Ort – den Oberbürgermeister, die Vorsteherin und den Bundespräsidenten – ja nicht zu bloßen Sitzreihen sprechen lassen. Ich bitte Kolleg*innen vom Börsenverein, der MVB und der Buchmesse, zu kommen, um das fehlende Publikum zu ersetzen. Die meisten von ihnen werden am Freitag noch auf Corona getestet. Auch von der Stadt, vom Land, vom Bund und vom Bundespräsidialamt kommen je ein paar Gäste, und – was mich besonders für unseren Preisträger freut – zumindest drei Stiftungsratsmitglieder, zusammen etwa siebzig Menschen. Beruhigend? Ja.  

Später erhalte ich Nachricht aus der ersten Probe des Hessischen Rundfunks mit dem Preisträger. Amartya Sens Internetverbindung funktioniert nicht richtig, und deswegen auch nicht die Zuschaltung. Er wird es reparieren lassen. Wir entscheiden uns, am Samstag bei der Generalprobe eine Voraufnahme zu machen, sollte am Sonntag die Verbindung nach Boston zusammenbrechen. Amartya muss an dem Tag um halb vier Uhr aufstehen, oder gar nicht erst schlafen gehen. Er hat sich noch nicht entschieden.    

Abends Lesung mit Abstand bei einem Literaturkreis mit zehn Menschen, die meinen Roman »Anfangs sonnig, später Herbst« gründlich gelesen haben. Sie nehmen mich auseinander, ich kann anfangs gut kontern. Zum Glück klingelt bald das Telefon. »Das Bundespräsidialamt«, sage ich beglückt, was meine Kritiker*innen beeindruckt, denn es stimmt wirklich. Letzte Absprachen an diesem Tage, unter anderem, wie der Vorname des Preisträgers richtig ausgesprochen wird. Ich frage den Gastgeber, er kommt aus Indien und weiß es genau. Es rettet die Lesung. Noch fünf Tage … 

Aber was, wenn es am Sonntag schiefgeht?

Martin Schult

Mittwoch, 14. Oktober 

Das Wort Frieden hat den Weg in die Rede gefunden. Alles wird gut. Der Übersetzer kann loslegen. Ich hingegen muss mich morgens erst einmal mit dem Forecast III für die Budgets vom Berliner Büro und vom Friedenspreis beschäftigen. Anders, als wir es vor anderthalb Jahren geplant haben – was war das damals ein schöner, unbeschwerter Frühling! –, werden wir weniger Geld ausgeben. Wenigstens ein Gutes hat die Pandemie. 

Katrin (von Boltenstern) redigiert die Reden, konferiert mit den Übersetzer*innen, bereitet die Drucksachen vor – den sogenannten Rascheldruck für die wenigen Anwesenden in der Paulskirche und das anschließende Buch für den Buchhandel.  

Ein Essen in einem kleinen, Corona-konformen Kreis mit dem Bundespräsidenten im Frankfurter Hof ist ebenfalls weiterhin in Planung, ein weiterer Hoffnungsschimmer. Zwischendurch Telefonate ohne Unterbrechung, E-Mails aus allen Himmelsrichtungen und für morgen schnell noch ein Interview mit dem Domradio planen.  

Bascha Mika meldet sich. Sie ist Mitglied im Stiftungsrat und will, da sie sowieso in Frankfurt ist, ebenfalls zur Verleihung kommen. Sie wohnt zum Glück nicht in Berlin, sondern in Potsdam: risikofrei, brandenburgisch, manche sagen auch jauchisch. 

Kurz darauf dann eine wichtige Frage des HR. Was, wenn wir mit der Verleihung zu früh fertig sind? Normalerweise fragen wir immer einen prominenten Gast, ob er oder sie für ein Interview bereitstehen würde. Doch jetzt wird ja niemand in der Paulskirche sein. Soll ich es machen? Aber was, wenn es am Sonntag schiefgeht? Dann steht ein mit Tränen in den Augen stotternder Typ vor der Kamera und weiß nicht mehr ein noch aus. 

Mir fällt Karl Lauterbach ein. Der oberste Pandemie-Wächter des Bundestags, der mit seinen Prognosen zum Verzweifeln (fast) immer richtig liegt, hat bei Amartya Sen studiert und ist begeistert von unserer Wahl. Sollte ich ihn fragen? Aber was für ein Zeichen, wenn er, bei all den Reisebeschränkungen, auf einmal in der Paulskirche sitzt! 

Katrin und ich verschieben die Entscheidung auf morgen. Wir gehen vietnamesisch essen, das Restaurant heißt SEN. Wir haben es (nicht) zufällig entdeckt. Und der Reisschnaps nach der Ente ist (wirklich) hervorragend. Bald ist Sperrstunde. Vor dem Restaurant schnorrt mich ein hysterischer Drogenabhängiger an. Er brauche unbedingt eine Zigarette, während er sich einen Schuss setze. (Ungelogen, es war so.) Was soll ich tun? Ich habe nur selbstgedrehte. Noch vier Tage … 

Donnerstag, 15. Oktober 

Die Zahl des Tages: 6638 neue Corona-Infizierte in Deutschland, so viel wie nie zuvor. Der Mann von der Hotelrezeption drückt sein Unverständnis aus: »Ich halte mich beim Fahrradfahren an alle Verkehrsregeln. Wieso schaffen das diese Idioten nicht? « Ich pflichte ihm bei. Trotzdem stimmt Idioten nicht immer. Die, die ich kenne, sind keine Idioten, sie waren noch nicht einmal unvorsichtig, als sie sich infiziert haben. 

Im Bundespräsidialamt wird noch einmal diskutiert. Doch es bleibt dabei, der Bundespräsident kommt. Ihm ist es wichtig, Amartya Sen auf diese Weise zu ehren. Aber wir entscheiden uns, das anschließende Essen noch einmal zu reduzieren, nicht was, das Menü betrifft (es gibt als Vorspeise Handkäsetartar), sondern die Anzahl der teilnehmenden Personen – Verständnis und Unmut, beides kommt wieder auf. Diese Zeiten sind nicht dafür geeignet, es jedem recht zu machen. 

Kurz kommt die Erinnerung an das letzte Jahr hoch: 720 Gäste in der Paulskirche und 200 beim Essen, ein großes Spektakel mit Sebastião Salgado und Wim Wenders, das – in Zeiten wie diesen – zu einer Sehnsucht wird, aber hoffentlich nicht zu einer Utopie. Ein kurzer Besuch in der Paulskirche ist ernüchternd: 70 Menschen werden hier am Sonntag sitzen, die meisten aus dem Börsenverein – ein verlorener Haufen in den ersten fünf Reihen. Was hilft, ist ein Kaffee im Wacker’s. Die Suche nach Normalität findet hier kurz Erfüllung. 

Zurück an den Schreibtisch. Virtuelle Pressekonferenz des Börsenvereins mit Amartya Sen – es läuft gut, aber er schaut nie in die Kamera. Auch ich schaue bei Videokonferenzen meist nur auf den Bildschirm oder auf die Tastatur. Aber wir werden morgen noch einmal üben. Plötzlich fällt mir die geeignete Interviewpartnerin ein: Bascha Mika. Und sie macht’s!  

Abends auf dem Römer: drei Bier in der Kälte mit einem alten Freund, wir begrüßen uns mit den Ellenbogen und gehen auch so wieder auseinander. Ich hätte es gern anders. Zwischendurch ein paar Telefonate.  

»Um diese Uhrzeit?«, staunt mein Kumpel. Er ist Schreinermeister. Noch drei Tage … 

Freitag, 16. Oktober 

Morgens der zweite Corona-Test, damit wir am Sonntag mit einem sicheren Gefühl dem Bundespräsidenten entgegentreten können. Der Freitag vor der Verleihung ist beim Friedenspreis immer Großkampftag …  

Es gibt einen Albtraum, den ich früher regelmäßig hatte und der jetzt Wirklichkeit wird.

Martin Schult

Ich träumte, ich sei ein Kellner, der in einem mehrstöckigen Restaurant arbeitet. Die Gäste können nach mir klingeln, wenn sie etwas bestellen wollen. Sie setzen dadurch den Aufzug in Bewegung, der mich in den vierten Stock bringt, in den zweiten Stock, in den dritten und so weiter. Und überall nehme ich Bestellungen auf, aber nie komme ich ins Erdgeschoss, um die Getränke zusammenzustellen oder der Küche die Essenswünsche durchzugeben. Ich schreibe nur die Bestellungen auf, den ganzen Tag … 

Am Abend aber habe ich den Albtraum überwunden. Die Entourage des Bundespräsidenten wird sich am Sonntagfrüh in Bewegung setzen. Die Verbindung zum Preisträger steht. Boston, wir haben ein Problem! – das ist Vergangenheit. Die letzten Planungen mit dem Fernsehen sind vielversprechend. Das Testergebnis kommt per sms: negativ. Dann kommt noch eine weitere sms aus dem Labor. Kurze Anspannung, haben sie sich geirrt? Doch alles ist gut.   

Ich sitze in der einzigen Raucherkneipe, die ich in Frankfurt kenne, und mache mir zwischen einsamen, kettenrauchenden Männern einen Plan für morgen. Die Bedienung trägt eine Plexiglasmaske. Immer, wenn sie mit den Gästen redet, zieht sie sie hoch. Ich lasse meine zur Vorsicht auf, was mit der Zigarette nicht einfach ist. Bald fällt mir auf, dass das Wort To-Do-Liste eigentlich nicht stimmt. Must-Do-Liste passt viel besser. Noch zwei Tage … 

Samstag, 17. Oktober 

Katrin und ich kopieren, drucken aus, stellen Listen und Ordner zusammen. Durch das ganze Hin und Her der letzten Tage müssen wir für die Teilnehmer an der Verleihung noch einmal neue Eintrittskarten schreiben. Aber wir haben Hilfe von Birgit (Reuß), die Stimmung ist gut, sie wird sogar immer besser. Ich hole heißen Kakao in der dritten Etage, weil wir die Automaten in den anderen Stockwerken schon leergetrunken haben. 

 Gerd R., der seit 1965 zum Friedenspreis kommt, weil er sich damals in Nelly Sachs verliebt hatte, hat uns – auch wenn er dieses Mal nicht kommen darf – eine gute Flasche Portwein geschenkt. Später, nach der Generalprobe in der Paulskirche, werden wir sie öffnen und uns danach einfach nur auf den morgigen Tag freuen. 

Um 14.45 Uhr ruft der Bundespräsident an.  

Warum auch nicht, denke ich, er ist schließlich der Laudator. Wahrscheinlich möchte er sich bedanken, dass alles so gut läuft. So dauert es ein paar Sekunden, bis ich begreife, was ihm passiert ist. Noch ein Tag … 

Sonntag, 18.Oktober 

Um 10.30 Uhr lässt uns der Frankfurter OB ausrichten, dass er sich verspäten wird. Wer der Kirche am nächsten wohnt, kommt als Letzter zur Messe, heißt es in Irland. Gerade noch rechtzeitig schafft er es in die Paulskirche, um pünktlich um 10.48 Uhr sein Grußwort zu halten. An diesem Tag hätten wir nicht auf ihn gewartet. Doch nach ihm verläuft alles reibungslos.   

Der Hessische Rundfunk hat Amartya Sen einen Dolmetscher zur Verfügung gestellt, der ihm aus der Paulskirche heraus übersetzt. So kann er am Bildschirm alles verfolgen, auch die Laudatio, die Burghart Klaußner für den Bundespräsidenten verliest.  

Einer seiner Personenschützer hat sich mit dem Corona-Virus angesteckt. Somit ist Frank-Walter Steinmeier seit Samstagmittag in Quarantäne und kann nicht nach Frankfurt kommen, um seine Rede selbst zu halten. Ihm geht es zum Glück gut, der erste Test ist negativ ausgefallen. 

Burghart Klaußner brilliert. Durch eine leichte Übertreibung schafft er es, dem Bundespräsidenten seine Stimme so zur Verfügung zu stellen, dass man merkt, es sind nicht die eigenen Worte, sondern die eines anderen. 

Um zwölf Uhr ist die Verleihung vorbei. Amartya Sen lächelt uns müde, aber glücklich von den Monitoren in der Paulskirche an. Ich kann ihm ansehen, wie sehr ihm das Grußwort von Karin Schmidt-Friderichs und die Laudatio des Bundespräsidenten gefallen hat, wie froh er ist, dass die Verbindung gehalten hat, und wie dankbar er manchmal an der Kamera vorbei seine Frau Emma angeschaut hat, die ihn die ganze Zeit unterstützte.  

Hinter Katrin und mir liegen fast 24 Stunden, in denen wir die ganze Organisation auf den Kopf gestellt haben. Und wir haben es geschafft! Mit Hilfe aller Beteiligten in Boston, Frankfurt und Berlin haben wir eine würdige Veranstaltung auf die Beine gestellt, die man sich in der ARD-Mediathek anschauen kann.  

Nach der Verleihung gehen wir Essen. Wir stoßen auf die beiden fehlenden Protagonisten an. Aus der Ferne wünschen wir ihnen vor allem eins: Gesundheit. Es hätte schließlich jedem von uns so ergehen können. 

Ein letztes Telefonat an diesem Tag mit Amartya Sen. Seine Freude ist aus jedem seiner Sätze herauszuhören. Wir verabreden, dass er nächstes Jahr zum Friedenspreis kommt. Ein »wenn es überhaupt möglich ist« lassen wir beide weg. Vielleicht kommt dann ja auch sein Laudator nach Frankfurt. Wir sind zu allem bereit.