Börsenblatt Young Excellence Award 2022

Clara Henssen: Weltenbürgerin

14. Juni 2022
von Christina Busse

Sie spricht mehrere Sprachen fließend und ist auch beruflich auf unterschiedlichen Feldern literarisch aktiv: Die Kosmopolitin Clara Henssen ist für beim #yeaward nominiert.

Clara Henssen sitzt vor dem Fenster

Clara Henssen

Next Stop: Oxford

„Als die AfD 2017 ins deutsche Parlament einzog, das war schon unheimlich. Ich habe das zeitgleiche Ende meiner Elternzeitvertretung bei Ullstein als Anlass genommen, mich professionell, aber auch geographisch neu zu orientieren“, sagt Clara Henssen. Sie bezeichnet sich selbst als „Kosmopolitin mit Nähe zu Deutschland“, und nicht zuletzt, weil sie einen internationalen familiären Hintergrund hat – mit Anteilen aus Deutschland, Frankreich und den USA – und sie dadurch fließend Englisch (und auch Französisch) spricht, wandert sie 2017 erstmal nach Toronto, Kanada aus. 2020 ist sie in ihre Studienstadt Oxford zurückgekehrt, was ihr mittlerweile zu einer zweiten Heimat geworden ist.

Kreative Kosmopolitin

„Die Nähe zu Deutschland ist natürlich aber trotzdem immer da“, betont die 34-Jährige. Schreiben und Lektorieren tut sie schließlich auf Deutsch. 2018 ist ihr Debütroman „down“ (Launenweber Verlag) über eine junge Frau mit Down Syndrom und ihre Sexualität erschienen. Seit 2019 arbeitet sie an ihrem zweiten Roman, in dem sie Teile ihrer eigenen jüdischen Familiengeschichte aufgreift und verarbeitet.

„Im Studium habe ich meinen Fokus auf die Geschichte der Judenpogrome sowie auf antifaschistische Autorinnen und Autoren gelegt, vor allem die sogenannten 'Nestbeschmutzer' Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek. An Bernhard schätze ich die Musikalität und den schwarzen Humor, an Jelinek das Politische, das Wütende. Bernhard und Jelinek haben ja auch viel fürs Theater geschrieben, deshalb habe ich während meines Studiums vor allem in diesem Bereich Praktika gemacht. Nach meinem Studium habe ich mich dann gefreut, mein Volo beim kleinen Independent-Verlag Crieur Public zu machen. Meine Aufgabe war vor allem, eine Wanderausstellung zu lektorieren und zu organisieren, in der es um die Geschichte der kolonialen Inszenierung von Andersartigkeit ging, die sogenannten ‚Menschenzoos‘, also Völkerschauen. Die Frage, wie Andersartigkeit – ob aufgrund von Behinderung oder ethnischen Hintergrund – von Nationen inszeniert wird, hat mich schon immer beschäftigt.“

Inhalte müssen nicht immer gefallen.

Auf den Spuren des Holocaust

Die Recherche für ihren aktuellen Roman wurde durch ein Stipendium der Stiftung „Zurückgeben“ zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft finanziert. „Ich wollte herauszufinden, was genau mit meinen jüdischen Vorfahren im Holocaust passiert ist, also auf welchen Wegen wer emigriert, wohin wer deportiert und wer, wo und wie ermordet wurde.“ Nach einer einjährigen Vorbereitung ihrer Recherche reist sie nach Washington, ins Archiv des United States Holocaust Memorial Museum, führt Interviews mit Verwandten in New York und beendet ihre Recherche schließlich vorerst im weltweit größten Archiv für Holocaustdokumente Yad Vashem in Jerusalem. „Ursprünglich wollte ich, als Vorbereitung für den Roman, vielleicht sogar als Thema die Deportationsroute meiner Großtante mit einem Campingbus abfahren. Aber in Yad Vashem, als ich endlich alle Informationen zusammen hatte, habe ich dann gemerkt: Das sind so unglaublich viele Konzentrationslager, in denen sie war, das schaffe ich alles gar nicht." Nach mehr als drei Jahren intensiver Nachforschungen würden noch viele Fragen offen bleiben, erzählt sie. „Mich beschäftigt vor allem die Frage, wie meine Verwandten zu Juden gemacht, also inszeniert wurden, vielmehr als dass sie es tatsächlich – religiös oder kulturell – so sehr selbst waren.“

Blick auf den Hörbuchmarkt

Als Lektorin, die auf neue Formate, vor allem Hörbücher mit Fokus Originals spezialisiert ist, arbeitet Clara Henssen mit Verlagen wie Audible und Hörbuch Hamburg zusammen und wirkt an Hörbuch-Bestsellern mit, wie zum Beispiel Yasmina Rezas „Serge“ und Karen Elstes Serie „Der Übergangsmanager“. Sie entwickelt Stoffe, lektoriert und produziert und erstellt Gutachten zu Zielgruppe und Vermarktbarkeit.

Vermehrt schreibt sie auch mit Blick auf den Hörbuchmarkt, dessen Entwicklung sie mit Spannung verfolgt. „Klassischerweise fungiert das Buch als Basis für die Hörbuchadaption. Jetzt ist es immer öfter umgekehrt: Zuerst entsteht das Hörbuch und danach das Print-Buch. Hörbuchverlage entwickeln ihre Stoffe mittlerweile auch vermehrt inhouse, anstatt ein fertiges Werk von Agenturen oder Autoren angeboten zu bekommen. Diese sogenannten Originals werden häufig in Autor:innengruppen entwickelt und sind oft seriell aufgebaut.“ Die Auswirkungen auf die Verlagswelt, auf Agenturen und Autor:innen beobachtet Henssen mit großem Interesse: „Nicht alles daran ist positiv, vieles sehe ich als höchst problematisch an. Vor allem wenn Unternehmen, die ursprünglich (Hör-)Bücher nur vertrieben haben, plötzlich selbst welche produzieren. In Tech-Konzernen, habe ich den Eindruck, läuft Literatur schneller Gefahr, auf Vermarktbarkeit und Unterhaltungswert reduziert zu werden.“ Die Verlagswelt allgemein sei „ja schon immer ein seltsames Zwischending aus Kunst und Kommerz“ gewesen, so Henssen, das sei also nichts Neues. Dennoch könne es nicht schaden, sich stärker seiner Position und Verantwortung bewusst zu sein. „Ich pack mir da natürlich auch an die eigene Nase. Inhalte müssen nicht immer gefallen.“ Mit den Worten von David Foster Wallace „Es braucht Geduld für das Schwere“ wünscht sie sich Mut zum Unbequemen.

Das nächste Romanprojekt wartet

Neben Projekten im Hörbuch- und Printbereich steht bei ihr aktuell die Fertigstellung ihres Holocaust-Romans im Fokus. Nicht erst in dieser intensiven Schreibphase zeigt sich: „In der Menge an Faktenmaterial stecken mehrere Geschichten drin.“ Sobald der Roman abgeschlossen ist, kann sie sich einen Sachtext zum Thema durchaus vorstellen. Oder einen weiteren Roman, als Serie oder Reihe. Nicht ohne, wie es bei Clara Henssen dazugehört, den Trend, als Autor:in die eigene Geschichte aufzuarbeiten und im Literaturmarkt zu kapitalisieren, kritisch zu hinterfragen.

Auf ein Wort:

Brexit: „Als EU-Bürgerin habe ich mein Visum für Großbritannien relativ problemlos erhalten, aber politisch ist der Brexit für mich natürlich trotzdem ein echtes Trauerspiel.“

„Desintegriert euch!“: „Mich beschäftigt das auf Michal Bodemanns rekurrierende Buch von Max Czollek, ich nenne es mal eine Streitschrift, immer noch. Daraus habe ich für mich die Frage gezogen: Wie ist es zu schaffen, in Deutschland über die eigene – zum Beispiel die deutsch-jüdische – Identität in all ihren Facetten zu schreiben, ohne sich von der Politisierung und Stereotypisierung durch den Literaturmarkt vereinnahmen zu lassen?“

Creative Writing Programmes: „Ich finde es wichtig, geschützte Räume zu schaffen, in denen frei von wirtschaftlichem Druck und Fragen der Vermarktbarkeit gedacht und geschrieben werden darf. Wenn ich unterrichte, versuche ich vor allem die Kreativität in meinen Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern zu fördern, also die Lust am Ausprobieren.“

Zur Person:

Clara Henssen, Jahrgang 1987, ist gebürtige Düsseldorferin. Ihr Bachelor-Studium absolvierte sie 2011 im Fach Deutsche Literatur und Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin, einschließlich eines Jahres an der University of Cambridge. Ihren Masterabschluss in den Vergleichenden Literaturwissenschaften legte sie 2013 an der University of Oxford ab. Nach Stationen im Lektorat des Suhrkamp Theaterverlags und im Verlag Theater der Zeit durchlief sie ein Lektoratsvolontariat bei Les Éditions du Crieur Public und arbeitete bis 2017 als Lektoratsassistentin und Programmkoordinatorin Belletristik bei den Ullstein Buchverlagen in Berlin. Seit 2017 ist sie als freie Lektorin, als Dozentin für kreatives Schreiben und als Autorin tätig.