"Wie wollen wir leben?" (23)

"Literatur-Versorgungsstellen in den Straßen"

24. Februar 2021
von Börsenblatt

Nach den Erfahrungen der vergangenen Monate ist die Frage "Wie wollen wir leben?" drängender denn je. Welche Denkanstöße dazu in Frühjahrsnovitäten zu finden sind, zeigen wir in einer Folge, die auch Anregung für einen Büchertisch sein kann. Die Antwort von Verleger Louis-Octave Uzanne befasst sich mit den Möglichkeiten der Medientechnik (Favoritenpresse).

Die folgende Antwort stammt aus Octave Uzannes Buch "Das Ende der Bücher", das am 9. Februar in der Favoritenpresse erschienen ist - im französischen Original aber schon 1894. Der Verleger Uzanne hat in seinem futuristischen Essay eine umwerfend genaue Medientechnik-Prophezeiung entworfen, die 120 Jahre später in der Rückschau zum Nachdenken und zu neuen Antworten führt.

"Was aber das Buch angeht, oder – denn Bücher als solche wird es nicht mehr geben – besser gesagt, den Roman oder den Storyographen, so wird der Autor sein eigener Verleger sein. Um Nachahmungen und Plagiate zu vermeiden, wird er nur vorab beim Patentamt seine Stimme hinterlegen müssen, jeweils die tiefsten und höchsten Töne, und ein paar Mal die gleiche Passage aufnehmen, damit es davon nachprüfbare Kopien gibt. […] In dieser ziemlich nahen Zukunft wird man die Literaten nicht länger Schriftsteller nennen, sondern eher Erzähler. Die Vorliebe für pompösen Stil und entsprechende Formulierungen wird allmählich verschwinden, während sich die Kunst des Sprechens in unglaublichem Maße entwickelt. Bestimmte Erzähler werden wegen ihrer Vortragsweise, ihrer Einfühlungsgabe, ihrer ergreifenden Warmherzigkeit oder ihrer perfekten Aussprache und Satzmelodie äußerst gefragt sein.[…]

"Die Zuhörer werden den Zeiten nicht nachtrauern, in denen sie Leser hießen. Ihre wachen Blicke, ihre erfrischten Gesichter und ihre zufriedene Gelassenheit bezeugen die Wohltat eines kontemplativen Lebens. Auf dem Sofa liegend oder sich im Schaukelstuhl wiegend, genießen sie stillvergnügt und neugierig die erstaunlichen Abenteuer, die ihnen die Zylinder zu Gehör bringen. Ob zu Hause, auf der Promenade oder bei Spaziergängen durch sehenswerte und malerische Orte: Die glücklichen Hörer werden das unbeschreibliche Vergnügen haben, Ertüchtigung und Bildung vereinen zu können, gleichzeitig Muskeln und Geist zu nähren, denn natürlich gäbe es Phono-Operagraphen im Taschenformat, die bei Wanderungen in den Alpen oder durch die Canyons des Colorado River von Nutzen sind.“

„Ihr Traum ist sehr aristokratisch“, warf der Humanist Julius Pollok ein. „Die Zukunft wird ohne Zweifel demokratischer sein. Ich sähe es gern, so muss ich Ihnen gestehen, wenn das gemeine Volk mehr profitierte.“ „Das wird es, mein sanfter Poet“, fuhr ich heiter fort und führte meine Zukunftsvision weiter aus. „Dem Volk wird es in dieser Hinsicht an nichts fehlen. Es wird sich an Literatur wie an klarem Wasser betrinken können, und ebenso günstig, denn es wird in den Straßen Literatur-Versorgungsstellen geben wie es dort heute Brunnen gibt. An allen Kreuzungen einer Stadt werden kleine Gebäude stehen, an denen ringsum Hörschläuche für wissbegierige Passanten angebracht sind, jeweils mit einem bestimmten Werk, das sich auf Knopfdruck abspielen lässt. Außerdem gibt es Bibliotheksautomaten, deren Mechanismus durch das Gewicht eines eingeworfenen Pennys in Gang gesetzt wird, und die einem zu diesem bescheidenen Preis die Werke von Dickens, dem älteren Dumas oder Longfellow in Form von Zylindern ausgeben, die man mit nach Hause nehmen kann."