"Wie wollen wir leben?" (21)

"zero waste"

22. Februar 2021
von Börsenblatt

Nach den Erfahrungen der vergangenen Monate ist die Frage "Wie wollen wir leben?" drängender denn je. Welche Denkanstöße dazu in Frühjahrsnovitäten zu finden sind, zeigen wir in einer Folge, die auch Anregung für einen Büchertisch sein kann. Die Antwort von Lernforscher Kersten Reich befasst sich mit einer Bildungsreform in Richtung Nachhaltigkeit (Westend).

Die folgende Antwort stammt aus Kersten Reichs Buch "Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde", das am 1. März im Westend Verlag erscheinen wird.

"Wie kann persönlich und gesellschaftlich die Nachhaltigkeit gestärkt werden? Reduktion von Emissionen, Verkehr, Rohstoffverbrauch, Müll und Verschwendung, Verzicht auf schnell wechselnde Konsumgüter, Fleischverzehr, Reisen, von Lebensstilen mit negativem Fußabdruck; dies sind wesentliche Maßnahmen, die sowohl individuell gewollt und umgesetzt werden als auch staatlich durch Anreizsysteme gefördert werden müssten. Gleichzeitig sollen solche Maßnahmen die Ungleichheit nicht weiter vorantreiben, die Gesundheit verbessern, die Sicherheit erhöhen, eine hohe Diversität in den Lebensformen zulassen. Was meist in diesen sinnvollen Zielen eines nachhaltigen Wandels vergessen wird, das ist die Erziehung, die notwendig ist, um Menschen systematisch und umfassend auf solche Ziele vorzubereiten. Nachhaltigkeit ist heute noch nicht einmal ein verbindliches Wissensfach, noch viel weniger ist sie eine Bildungsstrategie, die so gelebt wird, dass die Wahrscheinlichkeit nachhaltigen Verhaltens tatsächlich steigen kann. Deshalb habe ich betont, dass eine Bildungsreform in Richtung Nachhaltigkeit ein erster notwendiger Schritt wäre, der erfolgen müsste, wenn eine Mehrheit von Menschen nachhaltige Ziele und Verhaltensänderungen realistisch erreichen wollte.

Es gibt viele individuelle Initiativen, die positive Beispiele für ein nachhaltigeres Leben setzen. Einige will ich hervorheben, um zu verdeutlichen, dass jeder Mensch bereits heute etwas tun kann. Je massenhafter dies geschieht, desto wahrscheinlicher ist eine nachhaltige Wende. Ein wichtiger Ansatz ist zero waste, was ausdrücken soll, keinen Müll zu produzieren und keine Verschwendung mehr zu betreiben. Möglichst wenige Abfälle zu produzieren, das bedeutet weniger Vergeudung von Rohstoffen. Ein solches Ziel lässt sich durch Konsumverzicht, Abfallvermeidung und geschicktes Recyclen, umfassendes Reparieren des Bestandes und Wiederverwendung durch Weitergabe, vor allem aber auch durch längere Nutzungen erreichen. Die Strategien der Warenproduktion von Konsumgütern laufen allerdings genau in die gegenteilige Richtung. Schon lange gibt es den Wunsch nach langlebigen Konsumgütern, aber durch den relativen Preisverfall auch ehemals hochwertiger Waren konnte dies keine massenhafte Bewegung im Kapitalismus der letzten Jahrzehnte werden. Das lange fahrende Auto, die lange haltenden Waschmaschinen und Kühlschränke, all dies wäre technisch leicht möglich, ist aber wirtschaftlich nicht erwünscht. Doch mit der wachsenden Forderung nach Nachhaltigkeit werden die alten Wünsche heute zu einer Notwendigkeit, die gegen das etablierte System aber erst durchzusetzen wären."