75 Jahre Manesse Verlag

"Ambitionierte Klassikervermittlung"

4. März 2019
von Börsenblatt
Manesse ist auch 75 Jahre nach seiner Gründung die Adresse für klassische Weltliteratur. Mit dem Ende des traditionellen Bildungsbürgertums haben sich zwar Leseransprache, Formate und der Klassikbegriff selbst verändert – aber das Interesse an großer Literatur wird bleiben.       

Zeitgenossen, die noch seitenweise aus dem „Faust“ zitieren können, begegnet Horst Lauinger nur noch selten. "Den umfassend traditionsbewussten, bibel- und literaturfesten Leser gibt es so gut wie nicht mehr", sagt der Leiter von Manesse. Menschen, die unabhängig von Jubiläen mehrere Klassiker im Jahr lesen; der Typus des Sammlers, der sich regelmäßig nach den Neuerscheinungen in der Manesse Bibliothek erkundigt – das ist so ziemlich passé. "Die neue Generation kann man nicht mehr über ihre bildungsbürgerliche Pflichterfüllung packen, sondern bei der Neugier. Und diese Neugier auf niveauvolle Literatur wird es immer geben", ist Lauinger überzeugt.


Das, worum es mit einem Verlag wie Manesse heute geht, bringt Lauinger auf die Formel "ambitionierte Klassikervermittlung". Dazu gehören neue Klassiker, die bisher für das Deutsche noch nicht entdeckt waren, Neuübersetzungen, aber eben auch neue Ausgaben und Formate, die an die Stelle des jahrzehntelang Gewohnten treten. Ein wesentlicher Schritt in die neue Zeit war der Relaunch der Manesse Bibliothek im Frühjahr 2017.

Die seit 1944 vertraute Optik, die im Gleichklang mit den klassischen Inhalten das diskrete Erscheinungsbild pflegte, wich einem vollkommen anderen, zeitgemäßen Design, das die veränderten Lese- und Sehgewohnheiten der heutigen Generationen reflektiert und auch auf die veränderte Situation im Buchhandel reagiert. Die Aufmerksamkeitsparameter im heutigen Handel müssen ganz anderen Bedürfnissen genügen, um in der mehrfachen Konkurrenz von E-Commerce und digitalen Medien bestehen zu können.

Die vergleichsweise dominanten Farben und starken Bildmotive, die die neue Manesse Bibliothek schon von außen klar gegenüber dem Vorgänger abgrenzen, sind nicht jedermanns Sache: "Natürlich hat eine so einschneidende Veränderung erst einmal Irritationen bei manchen Lesern verursacht, die das traditionelle Erscheinungsbild goutierten. Aber was mir großen Mut macht, ist, dass viele Leser, die vorher skeptisch waren, die neubegründete Manesse Bibliothek nun bereits sehr gelungen finden – wegen der bibliophilen Aufmachung, an der wir aus Überzeugung festgehalten haben." Schönes Papier, Fadenheftung, Lesebändchen, extra gestaltete Vorsatzpapiere, ein originelles, fast kühnes Umschlagdesign, dies alles vereinigt sich zu einer Buchkunst, die man an Manesse immer schon geschätzt hat.


Und die soll auch im Jubiläumsjahr sichtbar werden, mit zwei Büchern, die unmittelbar an das Startprogramm im Herbst 1944 anknüpfen: Damals erschienen als Nummer 1 und 2 die Bände "Goethe im Gespräch" und „Moby Dick“ von Herman Melville. In diesem Frühjahr sind es Goethes "Italienische Reise" – mit großartigen Fotografien der Orte, an denen sich Goethe aufhielt – und die durchgesehene, korrigierte und mit zahlreichen Anmerkungen versehene Neuausgabe von "Mardi", des zweiten großen Romans von Herman Melville, dessen Geburtstag sich zudem 2019 zum 200. Mal jährt.

Was sich im Laufe der Jahrzehnte verschoben hat, ist auch der Begriff der Klassik. Literatur, die im 19. Jahrhundert noch en vogue war, wie etwa Klopstock, hat heute kaum noch Anhänger. Dafür reicht das aktuelle Programm bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, es umfasst moderne US-amerikanische Klassiker wie Upton Sinclair, John Steinbeck oder Thomas Wolfe, und öffnet sich auch Autoren der jüngsten Vergangenheit wie Giorgio Bassani oder Friedrich Dürrenmatt.


Nicht nur das Einzugsgebiet der Klassik hat sich verändert, auch das Format der Bücher ist schon länger nicht mehr auf das Klein-Oktav festgelegt. Größere Formate wie bei Eduard von Keyserling, Irène Némirovsky oder die in einem Prachtband erschienene Neuübersetzung der "Ilias" sind illustre Beispiele. "Bei der ‚Ilias‘ musste wir allein schon wegen des Hexameters auf ein größeres Format ausweichen, weil man sonst alle Verse hätte umbrechen müssen", so Lauinger.

Auch im 75. Jahr bleibt die Manesse Bibliothek vielversprechend. Zwar sind die alten Zeiten vorbei, in denen der Verlag mehr als zwei Drittel seines Umsatzes über die Backlist erwirtschaftete und damit problemlos Neuübersetzungen finanzieren konnte, doch die Erlöse kommen heute aus dem erfolgreichen Geschäft mit Novitäten – "immer neuen Klassikern", so Lauinger. Obwohl der Pool deutlich kleiner ist als früher und die finanziellen Spielräume geschrumpft sind, setzt Manesse also weiterhin auf ambitionierte Neuübersetzungen und -ausgaben. Manesse bleibt Manesse: der einzige sortenreine Klassiker-Verlag des deutschen Sprachraums.