Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2019: Dankesrede

Frei denkende Kritiker machen sich verdächtig

24. März 2019
von Börsenblatt
Die Kritikerin Marie Schmidt wurde bei der Leipziger Buchmesse mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2019 ausgezeichnet. Ihre Dankesrede stellt klar, was sie als Kritikerin nicht ist – und ist gerade darin eine selbstbestimmte Definition eines Auftrags für die Literaturkritik.

Zum Dank für den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik

Ich bedanke mich für diesen Preis, den zu bekommen eine schwindelerregende Ehre ist – und natürlich auch ein Auftrag.

Jetzt werde ich mir wohl doch auf die Visitenkarte schreiben können, was mir immer als eine unwahrscheinliche Berufswahl erschienen ist: Kritikerin.

Was könnte das überhaupt sein, eine Kritikerin? Am leichtesten kann ich Ihnen eigentlich sagen, was ich nicht bin:

  • Ich bin zum Beispiel keine Kunstrichterin. Ich kann zwar erklären, wie etwa ein Roman funktioniert, und hoffe dann, dass sich daraus in den Köpfen meiner Leser ein Urteil bildet. Aber treffen kann ich es nicht für sie, dazu bin ich durch nichts legitimiert.Außer vielleicht durch eine lange, teure Ausbildung.
  • Aber Philologin bin ich halt auch keine mehr. Obwohl ich alles von der Literaturwissenschaft gelernt habe. Wie man geistreich liest zum Beispiel. Aber ihre methodischen Skrupel kann ich mir heute nicht mehr leisten.
  • Journalistin bin ich auch nicht. Obwohl ich von einer journalistischen Institution bezahlt werde. Aber ich kann nicht einfach sagen, „was ist“, wie es das Berufsethos will. Das wäre mir offen gestanden zu langweilig. Sondern ich benutze die Literatur als Vehikel, um auch noch rauszukriegen, woher die Vorstellung der Leute davon, was ist, überhaupt kommt. Dabei stellt sich dann vor allem heraus, dass solche Vorstellungen ziemlich variabel sind, dass also das, was ist, irgendwie auch anders ist oder sein könnte. 
  • Ich bin aber auch keine Pädagogin, die anderen sagt, was sein sollte, oder was sie lesen sollen. Ich passe nicht auf, ob sich ein Autor oder sein Buch oder seine Leser anständig benehmen. Manchmal wird ja etwas vor uns Kritikern in Schutz genommen, mit dem Argument, in der Kunst „dürfe“ man doch alles Mögliche. Als wollten ausgerechnet wir diese Freiheit eingrenzen, wo wir doch selbst von den Lizenzen der Kunstautonomie am meisten profitieren.
  • Wobei ich aber auch keine Schriftstellerin bin, was ich mache ist selber nicht ästhetisch, sondern bestenfalls, schön geschrieben. Es ist für den Moment da, vergänglich und gleichzeitig naseweiser, rationalistischer als die Kunst, oder wie Alfred Kerr sagt: nicht unzurechnungsfähig.
  • Ich bin auch nicht: Verfechterin des größten Vergnügens für die größte Leserzahl.
  • Ich bin nicht Groupie und Biografin von Dichterinnen und Dichtern.
  • Ich bin keine Agentin des Buchmarktes in den Medien, ich verteile keine Kaufempfehlungen.

Obwohl natürlich, was ich tue, auf dem beruht, was Autoren, Leserinnen, Verlage und der Buchhandel tun.

Beim Nachdenken darüber, was denn eigentlich eine Kritikerin sein könnte, ist mir wiedermal dieser elitistische Gedanke von Ortega y Gasset untergekommen, dass manchmal Ämter oder soziale Figuren, zum Beispiel die des Staatsoberhauptes oder Dichterfürsten, eine besondere gesellschaftliche Plausibilität bekommen, wenn eine frei denkende Person sie ausfüllt. Wenn dieser frei denkende Mensch wieder weg ist, bleibt davon höchstens die Hülle übrig, oder wie Ortega y Gasset sagt, ein „Posten“. Für Kritikerinnen gilt, glaube ich, etwas Ähnliches, nur in bescheideneren Ausmaßen. Weil für die gibt es noch nicht mal richtige Posten. „Kritikerin“ ist eben in den seltensten Fällen eine eingetragene Berufsbezeichnung.

Es wird vielmehr von der Kritikerin erwartet, dass sie all die Posten, die ich gerade aufgezählt habe, ein bisschen ausfüllt. Zum Beispiel, um Geld zu verdienen. Wenn ich das von mir wegschiebe, dann natürlich in der Überzeugung, dass gerade die Kritikerin vor allem das freie Denken ausmacht. Dass es das entscheidende Privileg der Kritikerin ist, sich mit all den Rollen, die an sie herausgetragen werden, nicht zu identifizieren. Und dieses Privileg, diese Freiheit, kann ich durch diesen Preis noch viel selbstbewusster für mich in Anspruch nehmen, dafür danke ich Ihnen.

So ein Selbstbewusstsein kann aber natürlich andere ganz schön gegen einen aufbringen. Und das kommt ja auch ständig vor, dass Buchhändler empört sind, wenn wir Bücher verreißen, die sie gut verkaufen; Literaturwissenschaftler, weil wir ihre Erkenntnisse vereinfachen; Journalisten, weil wir haltlos über etwas spekulieren, das sie mühevoll recherchieren müssen.

Moritz Baßler hat diese Konflikte am Wochenende in der „taz“ wieder als Zeichen dafür beschrieben, dass „wir“ „keinen konsensfähigen Wertungsmaßstab“ mehr hätten. Das kann schon sein, aber darin sehe ich eigentlich nicht wie er ein Symptom des Verfalls der Literaturkritik. Sondern einen eher interessanten Effekt der Ausdifferenzierung des Betriebs. Wobei die Literaturkritik darin ihre Bedeutung sicher nur behaupten kann, wenn sie auf ihrer Freiheit gegenüber den Spezialmaßstäben der Anderen besteht. Selbst wenn man ihr das als Elitismus auslegt. – Was sicher nicht falsch ist. Diese Freiheit ist eben wirklich ein Privileg.

Was die gesellschaftliche Rolle von Literaturkritik angeht, glaube ich dennoch, dass sie umso plausibler wird, umso hartnäckiger wir Kritikerinnen und Kritiker dieses merkwürdig unbestimmte Zwischendasein, zwischen den „normalen“ Funktionsstellen des Medien- und Literaturbetriebs besetzt halten.

Zumal sollte der alte, blöde Spruch stimmen, dass es gar keine Gesellschaft gibt. Zumindest nicht gibt, bevor sie jemand als Gesellschaft beschrieben und gedeutet hat. Und das wäre dann ja wieder genau unser Job. Ich meine, genügend freie Sicht, um der Gesellschaft einen (nicht von Spezialinteressen verstellten) Ausblick auf sich geben zu können, hat in ästhetischer Form die Literatur, und daran angelehnt in reflektierterer, „nicht unzurechnungsfähiger“ Form die Literaturkritik. Wir sind die ersten Beobachter der Selbstfindung und Selbstbeobachtung der Gesellschaft in der Literatur.

Aber dieser Aufgabe muss die Kritik auch nachkommen! Sie muss die Literatur in ihrer abenteuerlichen und spannenden Wechselwirkung mit allen Phänomenen der Gegenwart zeigen. Und sich nicht zurückziehen in eine traurig trotzige Besinnlichkeit der Kunstbetrachtung um ihrer selbst willen.

Die gegenseitige Abhängigkeit von Kritik und Gesellschaft bedeutet ja auch, dass die Literaturkritik immer nur so relevant sein kann, wie sie sich selbst macht. Deswegen verstehe ich die wiederkehrende Klage über den Bedeutungsverlust der Kritik überhaupt nicht. Bedeutung ist ja nicht etwas, was man uns schuldig wäre, sondern eher etwas, das wir Kritikerinnen herstellen müssen.

Was uns natürlich, und auch da sehe ich diese Auszeichnung als einen Auftrag an, andererseits vor die Aufgabe stellt, den Freiraum der Literaturkritik vor allem institutionell und materiell zu beschützen. Also, zumal wenn man, wie ich, in einem Zeitungshaus angestellt ist, dafür zu kämpfen, dass es Literaturseiten, Literatursendungen, Literaturredakteure gibt und Budgets, Geld, Honorare für freie Kritiker.

Man muss sich ja auch eingestehen, dass unter den bestehenden ökonomischen Bedingungen, die vor allem die Bedingungen dieses unausgestandenen Medienwandels sind, die Zwischenstellung der Kritikerin nicht unprätentiöser wird. Zumal wenn sich Posten heute allenthalben auflösen. Wenn Literaturwissenschaftler zu Bildungsmanagern, Zeitungsredakteure zu Layoutern werden und Radioleute gleich das Fernsehen mitmachen, wenn sowieso alle Sender und Empfänger zugleich sind und außerdem Vermarkter ihrer selbst.

Und dann weiß auch ich kaum noch, für wen ich schreibe, wer eigentlich das Publikum ist, ob es jeweils einen Riesenbogen Papier vor der Nase hat oder einen kleinen Handybildschirm, ob es bereit ist, für all das Geld zu bezahlen.
Unter solchen Bedingungen macht sich so eine Kritikerin, die sich keinen Schuh wirklich anziehen will, die sich immer au-dessus de la mêlée hält, zugegebenermaßen verdächtig.

Man wird ja als Kritikerin deshalb oft aufgefordert von einem Standpunkt zu sprechen.
Zum Beispiel als Frau zu lesen oder für Frauen oder auch als junge Frau. Dieses Problem erledigt sich zumindest von selbst. Jedenfalls kommt da ein ganz merkwürdiges Originalitätsphantasma zum Tragen, als hätte man als weibliche Person unter 40 per se einen irgendwie pfiffigeren Weltzugriff.

Gerade für meine Alterskohorte ist diese Erwartung völlig absurd. Ich kannte und kenne Menschen, deren Perspektive durch eigene Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg zum Beispiel oder durch die Vereinigung der beiden Deutschlands, existenziell besonders geworden ist. Aber jemand, der wie ich in den achtziger Jahren im Westen geborenen wurde, ist ganz und gar ein Bildungsprojekt, völlig abhängig von dem, was ich lesen und von interessanten Leuten lernen kann, von denen es unter meinen Kollegen glücklicherweise viele bewundernswürdige gibt. Nur braucht man dafür eben Zeit, und dabei wird man alt. Nur deswegen habe ich, wenn ich ehrlich bin, diesen uneindeutigen Beruf ergriffen, weil es der einzige ist, in dem ich nicht bereits etwas sein muss, sondern sehr lange lernen und überlegen kann.

Was ich damit sagen will, ist: Ich habe nichts zu repräsentieren, ich kann nur interpretieren. In einem hermeneutischen Sinn, aber auch einem mimetischen, schauspielerischen. Mir die Sichtweisen einer Figur oder einer Theorie anziehen wie neue Kleider und verstehen, wie die Dinge aus ihrer Sicht laufen. Ein paar Meilen in den Schuhen einer komplett befremdlichen Argumentationsweise laufen und schauen, wie das so geht.

Ich darf mir Kunst und Literatur und Welt aus verschiedenen Gesichtspunkten erklären, die sich womöglich sogar widersprechen und konkurrieren, das ist das Versprechen der Kritik. Und die ist eine schlichte Notwendigkeit, wenn es so etwas wie Gesellschaft weiter geben soll. Für die Anerkennung durch diesen großartigen Preis danke ich Ihnen sehr!