Literaturkritik

Zwischen Feuilleton und Haul

18. Oktober 2015
von Nils Kahlefendt
Früher gab es Reich-Ranicki, heute wird im Netz mit gehobenem oder gesenktem Daumen über Literatur geurteilt? Ein Klischee, natürlich, denn das Netz hat den Hallraum der Bücher vergrößert. Auf der Messe wurde über das Verhältnis von klassischem Feuilleton und digitaler Literaturkritik diskutiert. Ein neues Online-Magazin will ab kommendem Frühjahr beide Welten aufeinander treffen lassen.

Ist die Literaturkritik – mal wieder − in der Krise? Oder sind es nur die Medien, die sie verbreiten? Braucht die literarische Öffentlichkeit die Kritik alten Stils überhaupt noch? Und: Liegt das Heil der Kritik in der Zukunft tatsächlich im Netz? Im Sommer löste ein Essay von Wolfram Schütte eine Kritik-Debatte aus, die vor allem auf dem Netz-Portal Perlentaucher geführt wurde – und nun, wenn auch unausgesprochen, ein Podium inspirierte, zu dem das Magazin Bookmarks in den Orbanism Space der Buchmesse eingeladen hatte. In Zeiten, in denen viele Journalisten Rezensionen und Empfehlungen via Twitter und auf Blogs teilen, nicht selten noch bevor diese dann in Print-Form zu lesen sind, diskutierte die Runde über klassische und ‚neue’ Formen von Literaturkritik. Einen interessanten Spin bekam die Debatte dadurch, dass mit der Bachmannpreis-Gewinnerin Nora Gomringer und den Journalisten Jan Drees und Stefan Mesch Insider auf dem Panel saßen, die beide Seiten des Spielfelds aus der eigenen Arbeit kennen.

Auf Krawall gebürstet

Nora Gomringer empfindet zahllose „Buch-Selfies“, Tonnen von Lese-Tipps und die mal gehobenen, mal gesenkten Daumen im Netz eher als „Buch-Pornografie“ zweifelhafter Qualität. Vergleichbar den Haul-Videos auf Youtube, wo – ‚Schau’ was ich hier habe!’ − das passende Filmchen zum Shopping-Erlebnis geliefert wird. Dagegen sieht Stefan Mesch, der als Kritiker und Kulturjournalist unter anderem für die Zeit, den Tagesspiegel und literaturkritik.de schreibt, den erweiterten „Hallraum“ für Literatur grundsätzlich positiv: „Die meisten Redakteure sind heute auf Facebook und Twitter unterwegs, es gibt viel mehr direktes Feedback. Wozu von der Kanzel schreiben, wenn man auch miteinander ins Gespräch kommen kann?“ Kritisch sieht Mesch den rasant gestiegenen Quotendruck im Netz: „Oft muss schon die Headline auf Krawall gebürstet werden, Populismus zieht.“ Aber: „Auch lange, komplexe Texte werden heute von 50 Lesern gefunden.“ Und was, bitte, wird aus einem eben wiederbelebten Format wie dem „Literarischen Quartett“, wenn parallel ein Wettbewerb um die schärfsten Tweets tobt? Ist das Format durch die fürsorgliche Netzbegleitung überhaupt noch in der Lage, sich frei zu entwickeln? „Wenn sich ein Kritiker wegen Twitter nicht weiterentwickeln kann“, so Jan Drees, „hat er seinen Beruf verfehlt".

Bücher werden nicht mehr vergessen

Soll man als Kritiker lieber ein tolles Buch preisen – oder vor zehn Titeln warnen, die man sich sparen kann? Zweifellos verändert das Netz die Auswahl der Titel, über die gesprochen und – im besten Fall – gestritten wird: Bücher sind sichtbarer geworden, und das auf Dauer. Während das Gros im Print-Feuilleton nach wenigen Wochen „durch“ sei, profitierten nun auch scheinbar randständige Genres: Plattformen wie das Lyrik-Blog Fixpoetrie, so Gomringer, haben es geschafft, die Leserwahrnehmung nachhaltig zu verändern. Eine Entwicklung, die Mesch aus Kritiker-Sicht bestätigte: „Wenn die ‚großen’ Titel von Iris Radisch besprochen werden, lese ich halt ein Dreiviertel Jahr lang amerikanische Jugendbücher. Und schreibe darüber. Ich will da grasen, wo nicht alle sind.“ Nicht selten lässt sich Mesch auf Plattformen wie Goodreads inspirieren – und besorgt sich dann schon mal antiquarisch Kriegstagebücher aus den 70er Jahren. „Bücher werden nicht mehr vergessen, das ist toll. Was die Großkritiker mit ihren Rowohlt-Blockbustern machen, interessiert mich vielleicht in 20 Jahren.“

tell soll im Frühjahr starten

Da die Buchmesse am Ende so etwas wie ein begehbares Internet ist, wurde in Frankfurt – different time, different place − ein Projekt annonciert, das sich ebenfalls der Kritikdebatte vom Sommer verdankt. Auf Worte sollen bald Taten folgen: Auf der Leseinsel der unabhängigen Verlage präsentierten die Kritikerin Sieglinde Geisel (NZZ), die Blogger Lars Hartmann (Aisthesis) und Herwig Finkeldey (summacumlaude) sowie der Übersetzer Anselm Bühling das neue Online-Literaturmagazin tell, das, wenn es mit der Finanzierung klappt, im kommenden Frühjahr an den Start gehen soll. Bislang ist tell mit einer Teaser-Seite im Netz, die immerhin neugierig macht. Auf tell sollen sich klassisches Feuilleton und Literaturblog begegnen, auch mit neuen, netzaffinen Formen will man experimentieren.

Hier gibt es den Audio-Stream zur Veranstaltung.