Martina Bergmann über Individualität und Dienstleistung im Einzelhandel

Zwei Autos oder ein Traktor

5. April 2019
von Börsenblatt
Der schönere Einzelhandel sei eine Vereinbarung auf Gegenseitigkeit und müsse das auch bleiben, meint Martina Bergmann. Die Buchhändlerin und Verlegerin aus Borgholzhausen ist sicher: "Wer sich dem Dienstleistungsgedanken vollständig unterwirft, bleibt liegen."

Solange ich den Einzelhandel kenne, wird zu diesem nicht geraten. Alle finden ihn gut, aber keiner will dort arbeiten. Vor zwanzig Jahren waren es die Öffnungszeiten, also Tätigkeiten bis halb sieben und am Samstag. Vor fünfzehn Jahren schien es, als liege die Zukunft an Orten, wo man das Tageslicht nicht sieht. Und seit zehn Jahren gewöhnen wir uns an den Onlinehandel. Er hat nicht nur die Konsum-, sondern auch die Lebensgewohnheiten grundsätzlich verändert. Man merkt das als Einzelhändler. Gerade das, was früher als von gestern galt, macht den innerörtlichen Einzelhandel auf einmal attraktiv.

So ein Geschäft hat ja Öffnungszeiten. Die stehen irgendwo angeschrieben und gelten dann auch. In dem Einzelhandelsgeschäft sind Menschen, die das Telefon bedienen und beim Aussuchen helfen. Man kann sich mit ihnen unterhalten, auch mal über etwas anderes als die Bücher. Über das Wetter, die Kommunalpolitik, die Fußballbundesliga und Hartz IV. Die Luft in Borgholzhausen ist sowieso besser als im Einkaufscenter, und neben den Parkbuchten gibt es zweimal Halteverbot: Direkt vor meiner Tür und vor dem Schaufenster. Vor das Fenster passen sogar zwei Autos oder ein Traktor. Das ist einladend, immer wieder.

"Heute nutzen Kunden den Einzelhandel, wie es ihnen einfällt"

Es ist natürlich trotzdem nicht die beste aller Welten. Denn Onlinehandel, Zeitgeist oder irgendetwas Drittes haben den Umgang miteinander verändert. Kundenbeziehungen  funktionierten früher auf Gegenseitigkeit. Wir kommen, wenn du da bist, zu deinen Öffnungszeiten. Wir kaufen, was du hast, denn du wirst ja wohl wissen, was du vorhältst. Wir hören dir zu, weil du die Expertin bist. Heute nutzen Kunden den Einzelhandel, wie es ihnen einfällt. Sie gebrauchen die Buchhandlung zum Beispiel als Abholfach. Es ist nicht eilig, und oft sammle ich Stapel über eine Woche oder zehn Tage. Andere Kunden möchten sich Emails mit mir schreiben: Sie bestellen ein Buch und hätten gern Nachricht, wenn ich die Bestellung verarbeite, wenn die Ware eintrifft, wenn das Geschenk verpackt ist - jeweils. Kunden möchten also mehr Kommunikation und weniger Eile. Das kann man leisten. Vielleicht ist es sogar ein gesunder Trend.

"Ich kaufe bei dir, und das ist nicht selbstverständlich"

Eine zweite Verschiebung fällt mir schwerer. Das Statusbewusstsein ist nämlich auch anders. Ich kaufe bei dir, und das ist nicht selbstverständlich. Ich könnte schließlich da oder dort kaufen, ich kann mich im Internet informieren, und überhaupt ist es nett von mir, dass ich dich unterstütze. Einfacher: Du machst für mich, wie ich das will. Man könnte es sich schön reden und sagen, na ja, ich bin Dienstleister. Was soll's. Das Problem: Wir sind nicht so schnell wie das Internet, und wir haben nie so viel Vorrat wie ein Filialist in der Einkaufsstraße. Wer sich dem Dienstleistungsgedanken vollständig unterwirft, bleibt liegen. Denn das Dienstleisten um jeden Preis ist heute ein Kampf, den man als kleinerer Inhaber verliert. Nur: Das steht auch dran. Wo ein Traktor parken kann, gibt es siebzehn Sorten Geschenkschleife zum Aussuchen, Fotopostkarten vom Bauernhof und Kunst aus der Region. Vieles andere gibt es nicht.

Gerade, wenn Individualität stark nachgefragt wird, muss man wissen, wer man ist und was man kann. Halteverbot oder Kaffeevollautomat? Kleinverlage oder Paybackkarte? Alles auf einmal geht nicht, und da durch die Preisbindung Bücher überall dasselbe kosten, kann sich der Kunde ja entscheiden. Menschen sind nach meiner Beobachtung erstaunt und manchmal irritiert, wenn man das sagt. Aber sie verschwinden nicht, nur weil man höflich daran erinnert, dass der schönere Einzelhandel eine Vereinbarung auf Gegenseitigkeit ist und das auch bleiben muss. Sonst kann er nämlich nicht bestehen, weder emotional noch ökonomisch.


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