"Open Mike"

"Texte, die unterwegs sind"

5. November 2007
Redaktion Börsenblatt
Der Berliner „Open mike“ ist in die Jahre gekommen, und er ist für die Sieger auch nicht mehr ein unbedingter Garant für Buchpublikationen, wie in den neunziger Jahren.
Trotzdem: das Interesse am wichtigsten deutschen Nachwuchswettbewerb ist nach wie vor erheblich, und das Publikum wächst nach. Es ist bei dieser Veranstaltung höchstens halb so alt wie üblicherweise bei Lesungen, gefühlte Siebenundzwanzig. So enthusiastisch und jugendfroh geht es selten zu im Literaturbetrieb. Deshalb ist es erfreulich, daß der „Open mike“, der nach Verlust eines Sponsors bereits vor dem Ende stand, mit der Crespo Foundation einen neuen Geldgeber gefunden hat und an diesem Wochenende zum 15. Mal stattfinden konnte, wiederum in der gut gefüllten „Wabe“, dem Kulturzentrum am Rand des Thälmannparks. In den vergangenen Jahren fiel auf, dass sich die Hälfte der Finalisten aus den Leipziger und Hildesheimer Schreibakademien rekrutierte – ein Netzwerk, an dem sich offensichtlich immer mehr Autoren zur ersten Buchveröffentlichung hangeln. In diesem Jahr hielt sich das Leipziger Einerlei allerdings in Grenzen: Nur noch sechs von einundzwanzig Autoren sind schreibgeschult. Der Sieger des Wettbewerbs ist sogar gänzlich unbeleckt vom Literaturbetrieb. Der aus Kirgisien gebürtige, im Emsland als Lagerist arbeitende Johann Trupp konnte Publikum und Jury mit seiner allerersten Lesung überhaupt überzeugen. Die mit Georg Klein, Antje Ravic Strubel und Raphael Urweider hochkarätig besetzte Jury war beglückt über den Text des Achtundzwanzigjährigen, eine raffinierte Ich-Geschichte, die Leseerwartungen unterläuft („ich“ ist zum Beispiel immer ein anderer) und Humor und Ernst gekonnt verbindet. Der Familienkosmos, der in vielen Geschichten den Rahmen absteckte, wird hier in fragmentierter, verrätselter Form geboten, in einer Sprache von lakonischer Poesie. Ausgezeichnet wurde auch die zwischen Italo-Western und Psychiatriereport changierende, schnoddrig monologisierende Geschichte „Planet Pony“ von Tina Ilse Gintrowski. Den erstmals vergebenen Lyrik-Preis erhielt die Leipzigerin Judith Zander, die bereits im vergangenen Jahr unter den Finalisten war. Allen, die künftig am Wettbewerb teilnehmen, ist zu raten: Versucht es erst gar nicht mit Humor. Denn die Juroren mögen allzu pointenbewusste Texte nicht. Es mag ihnen, die ja selbst Autoren sind, Verdruß bereiten, wenn das Publikum sichtlich Gefallen findet; und sie wollen sich die Entscheidung nicht abnehmen lassen vom Gelächter. So gingen auch diesmal ein schön skurriler Beitrag unter: Anselm Nefts komisch-krachlederne Bauerngeschichte „Die schönste Blume Allgäus“. Im vergangenen Jahr hatte der grantelnde Juror Maxim Biller das Thema Migrationshintergrund vermisst. Diesmal war es gleich in mehreren Geschichten präsent – schlackenlos erzählten Stories, die vielleicht erzähltechnische Alleinstellungsmerkmale vermissen ließen und von der Jury deshalb nicht prämiert wurden, denen man aber gerne zuhörte, in der wiederum suspekten Erwartung, dass Migranten mehr zu erzählen haben als der autochthone Jedermannsdeutsche. Beeindruckend ist inzwischen die Liste der Autoren, die über den Talentwettbewerb Zugang zum Literaturbetrieb gefunden haben, darunter Karen Duve, Terézia Mora, Julia Franck, Kathrin Röggla und Jochen Schmidt. Solche Entdeckungen bleiben aber schöne Ausnahmen. „Die Qualitätspyramide liegt sehr breit auf“, meinte Thomas Wohlfahrt, der Leiter der veranstaltenden Literaturwerkstatt Berlin, zum Gros der Texte. Soll heißen: viel Ausschuß, wenig Erhebendes. Wie in jedem Jahr wurde mangelnder experimenteller Wagemut beklagt. So schien manchem das Rühmenswerteste die „enorme Konzentration“ des literaturbegeisterten Publikums. Sechshundertsechzig Texte sind in diesem Jahr eingesandt worden; wie üblich hatten sich sechs Lektoren die Mühen der Vorausscheidung zu teilen. Das muß wohl grausam sein: immer wieder erste Liebe und Abschiede von den Eltern, immer wieder Ich-Geschichten. Denn offenbar ist die Bereitschaft, sich eine Figur auszudenken, bei den meisten Jungautoren nach wie vor gering ausgeprägt. Aber Lektoren lesen anders. Vor allem lesen sie mehr, als im Manuskript steht. Wo Kritiker nur die Mängel des fertigen Produkts sehen, nimmt der Lektor beglückt die Anfänge eines Autors wahr, das verheißungsvoll Unfertige. Sein Vergnügen sind „Texte, die unterwegs sind“. Auch den besten Beiträgen des Wettbewerbs war anzumerken, daß sie noch unterwegs sind. Unterwegs sind bald übrigens auch die preisgekrönten jungen Autoren, denn zu den Neuerungen des Wettbewerbs gehört neben einem vorgeschalteten Kolloquium (in diesem Jahr zum Thema „Langeweile“) auch eine Lesereise. Wolfgang Schneider