Auf der Flucht vor schmerzlichen Erinnerungen und vergangenen Gefühlen, immer unterwegs und unfähig, sich irgendwo zu Hause zu fühlen, zögern sie kurz vor jedem Fall und verweigern explosive Annäherungen, um nicht 'unter die Räder' zu kommen. Wie etwa Janni, die sich der obesessiven Eifersucht ihres geliebten Cellisten Leon mehr und mehr entzieht, da er nur an Wahrheiten glauben mag, die sichtbar zu machen sind.
Aber die Seele eines Menschen zeigt sich nur im Schutz der Dunkelheit. Das erkennt Maya, als ihr die Trauer über den Verlust ihres Gefährten Milos bewusst wird. Und obwohl ihr seine Liebe Halt gegeben hat, kommt mit dieser Erkenntnis kein Wind auf, mit dem sie ihm nach Brasilien folgen könnte. Stattdessen lässt sie ihre Sehnsucht implodieren und schließt sich nachts im Palmengarten ein, wo sich der Regenbaum befindet, unter dem ihre Liebesgeschichte mit Milos begonnen hat. Aber deren "Anfang bleibt ja immer im Dunkeln". So wie bei Sofie und Matthäus. In einer rostroten Nacht, im Raum zwischen den Zeiten, erleben sie nach 10 Jahren ein Wiedersehen und ein intensives Aufflammen jugendlicher Gefühle. In alten Träumen zu graben und alle Möglichkeiten aufleuchten zu lassen, das gelingt ihnen nur in dieser einen Nacht. Im Morgengrauen beim Abschied vor der Haustür ist der ganze Zauber jedoch wieder verbannt ins Reich des ungelebten Lebens.
Die hellste Geschichte ist vielleicht die vom Maler Rembrandt, der eigentlich nur bei Nacht arbeitet und den Tag am liebsten verschläft. Denn sonst würde er verrückt. Nie schafft er es, seine Arbeit als Barkeeper pünktlich anzutreten. Und dann begegnet ihm Mia in einem Bus, die schon beim 2. zufälligen Treffen ihren Kopf in seinen Schoß legt. Wie war das noch in "Strangers in the night"? "Something in your eyes was so inviting ..." aber weiter im Text: "... und sie fuhren weiter, immer weiter, bis es vollständig dunkel war." Dieses Großstadtmärchen endet natürlich so, dass Mia irgendwann nicht mehr im Bus sitzt. Und Rembrandt hat nie nach ihrer Telefonnummer gefragt. Dieses Versäumnis kompensiert er, indem er Mia zu malen versucht. Was ihm nur im Tageslicht gelingt, womit er seine Angst vor der Sonne zu besiegen scheint.
Alle Geschichten spielen in Wien. Ruth Cerha, die Musikerin ist, webt in ihren ersten sechs veröffentlichten Geschichten in verschiedenen Erzählperspektiven, stets ganz dicht an ihren Figuren, deren Unzulänglichkeiten und Unsicherheiten dem Leser sehr naherücken. Gleichzeitig bleibt stets etwas Geheimnisvolles und Rätselhaftes zurück, was die Geschichten nachwirken lässt. Die Dialoge und inneren Monologe sind sehr lebensecht. Und poetisch. Wie der Film "Before sunrise". Dort trifft ein Amerikaner eine Französin in einem Zug nach Wien, wo beide aussteigen und eine gemeinsame Nacht miteinander verbringen. Auch hier bleibt es in der Schwebe, ob diese Liebesgeschichte tatsächlich begonnen hat und ein Happy End haben wird. Selbst zehn Jahre später im Fortsetzungsfilm "Before sunset".
Mit Ruth Cerhas traumhaften Erzählungen über Wiener Nächte wachsen einem vielleicht doch noch Flügel, um das Zaudern vor den Tonleitern des Lebens zu überwinden. Nach der Lektüre sitzt man jetzt wieder aufrechter im Zug des Lebens und lauscht wachsamer dem Gesang der Räder in den Schienen. Dank Ruth Cerha hat man dabei wieder mal die ungestümen Doors als Ohrwurm: "Come on Baby, light my fire!" Und die Traurigkeit weicht allmählich einer hellen Freude, denn man ahnt es wieder: Das Leben steckt voller Musik.
Yvonne Messer
Ruth Cerha: Der Gesang der Räder in den Schienen. Luftschacht Verlag, Wien 2007, 19,90 Euro
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