Es ist ja nicht so, dass wir in diesen Tagen nichts zu lesen hätten. Die Vorschauen! Und dann die Leseexemplare! Bis die Vertreter tatsächlich kommen, sollte man in die meisten wenigstens mal hineingelesen haben, während man sich die letzten Mandarinen in den Mund steckt. Außerdem ist Weihnachten dieses Jahr ja nicht auf ein Wochenende gefallen, da gab es noch mal ein paar Extrabeilagen in den Zeitungen.
Und trotzdem: Sie sollten wieder mal einen Klassiker lesen. Einen Abend lang, das genügt schon. Ich weiß, Klassiker sind meistens vor allem dick, aber erstens gilt das nicht für alle (»Mathilde Möhring« von Fontane etwa, schlank und rank und nicht nur für Berliner eigentlich ein Pflichtstück), und zweitens ist ja das Schöne an den Klassikern, dass man sie nicht unbedingt durchlesen muss. Nicht nur, weil man sie vielleicht schon kennt, sondern weil sie das, was ihren Zauber ausmacht, schon nach 20, 30 Seiten rüberbringen.
Darf ich kurz erklären, was ich mit Zauber meine? Das ist zum einen die innere Sorgfalt, mit der diese Bücher geschrieben wurden und die sie so widerständig gegen das Vergessen gemacht hat. Sie merken es daran, dass da kein Wort überflüssig ist, kein Wort, keine Geste, keine Episode. Und zum andern spricht jedes Wort, jede Geste, jede Episode zu Ihnen. Die Alten hatten ja immer ihren Leser, ihre Leserin vor Augen, das Erzählen, das ja immer ein Jemandem-etwas-Erzählen ist, war in diesen fernsehlosen Zeiten allen ganz selbstverständlich.
Ja, und das dritte, was den Zauber ausmacht, ist der alte Ton, die ungewohnt gewordene Sprache, meinetwegen: das Unmoderne daran. Es gibt dem Ganzen, was man bei den Neuen so oft vermisst: Würde zum Beispiel und Aura und das Gefühl, ernst genommen zu werden. Die Sätze und die Schicksale und all die starken Gefühle, das kommt dann wie Musik herüber, wie ein Lied von John Dowland oder von Schubert oder meinetwegen wie »Yesterday«.
Das zu lesen und hier kommt der Grund, warum Sie das gerade jetzt tun sollten , das zu lesen, wird in Ihnen gerade in diesen Nachdenktagen ein gutes Gefühl hinterlassen gegenüber dem, was Ihre tägliche Arbeit ist. Unser Beruf, ganz gleich, an welcher Stelle der Vermittlungskette wir werkeln, hat nämlich auch Würde, er hat sogar Aura. Wenn Sie ein paar Seiten eines alten Buches lesen, werden Sie es spüren.
Seit 3.000 Jahren mindestens wird etwas aufgeschrieben, damit andere es lesen, Zeugnisse von Menschen, die, wenn sie Feldherren oder Könige waren, vielleicht nur angeben wollten, wenn sie aber Dichter waren, wollten sie auch etwas überliefern, was auch Spätere noch interessiert und, wenn es schön ist, auch glücklich macht.
In den Regalen einer wirklichen Buchhandlung ist ja das ganze Wissen, Weinen und Lachen der Menschen versammelt. So gesehen, ist eine Buchhandlung ein ganzes Universum. Und Sie mittendrin. Damit sind Sie noch kein Weltenlenker, aber ein bisschen Aufmerksamkeit hierhin oder dorthin lenken, das können Sie schon.
Klassiker sind ja irgendwie die Elefanten im Regal. Und weil man so manche doch noch nicht gelesen hat, sind es weiße Elefanten.
Ob Rilke nicht doch die gemeint hat?
Welchen Klassiker haben Sie unterm Weihnachtsbaum gelesen? Erstmals oder wieder? Diskutieren Sie mit uns!