Laudatio von Volker Lilienthal:
Die "Ästhetik des Widerstands", die Peter Weiss in drei Bänden 1975, 1978 und 1981 vorlegte, gilt als eines der sperrigsten Werke der neueren deutschen Literatur: sprachlich streng, politisch radikal. Es war vor allem Weiss' Beharren auf dem kulturellen Erbe der Arbeiterbewegung und der notwendigen Erinnerung an die Gräuel des Nationalsozialismus, das ihm in der Literaturkritik einer saturierten Bundesrepublik der späten 1970er Jahre viel Ablehnung eintrug. Als "kommunistisches Propagandawerk" wurde das rund tausendseitige Werk geschmäht, obwohl es doch in Wahrheit eine Synthese aus Politik und Kunst auf hohem Niveau versucht - großenteils gelungen, teils aber auch widersprüchlich bleibend.
Umso mehr ist es dem Bayerischen Rundfunk und dem WDR zu danken, dass sie diesen Reflexionsroman zur Vorlage eines 12-teiligen Großhörspiels in der Länge von zehneinhalb Stunden gemacht haben. Entstanden unter der Dramaturgie von Herbert Kapfer (BR) und inszeniert von Karl Bruckmaier sendete Bayern2Radio das Stück von Mitte Januar bis Anfang April, und der Partner WDR hatte im Mai vergangenen Jahres den Mut, das Werk an einem Sonntag fast zwölf Stunden lang, nahezu nonstop, auszustrahlen. Die Hörbuchedition zum Nach- und Immerwiederhören ist im hörverlag erschienen, ergänzt um ein lesens- und anschauenswertes Beibuch.
Da ist es noch mal, das kernige Kulturradio, das sich um Moden und Programm-Schemata nicht schert, das seinen Hörern einiges abverlangt, aber eben auch vieles bietet. In diesem Fall waren es historisch-politische, aber auch emotionale Hörerlebnisse aus dem Leben eines jungen Arbeiters zur Zeit des Nationalsozialismus, der sich nach Spanien aufmacht, um gegen den Faschismus zu kämpfen, der sich zusammen mit seinen Genossen die großen Werke der Kunst wie ein Stärkungsmittel im politischen Kampf aneignet - doch der schreckliche Gegner ist stärker und am Ende bleibt dem jungen Arbeiter, der bei Weiss namenlos ist und so auch in diesem Hörspiel, nur noch, die Hinrichtung seiner Gefährten in Plötzensee würdevoll-unerbittlich zu protokollieren.
Die "Ästhetik des Widerstands" ist weit mehr als ein sogenannter proletarischer Bildungsroman, sie erzählt eine ganze Epoche aus Politik und Kultur, Verrat und Solidarität, Verzweiflung und Hoffnung. Den Steinbruch des schriftstellerischen Materials hat Regisseur Bruckmaier klug sortiert, in zwölf Hörkapiteln, deren schlichte Überschriften Orientierung bieten: "Der Altar", "Der Traum", "Der Vater", "Spanien", "Guernica", "Im Exil", "Der Auftrag", "Brecht", "Die Mutter", "Der Untergrund", "Plötzensee", "Die Ausgesetzten".
Als intelligenter Kunstgriff von Dramaturgie und Regie hat es sich erwiesen, den Ich-Erzähler in zwei Stimmen zu zerlegen, zwei Stimmen, die wie in einem inneren Dialog miteinander verwoben erscheinen: in die des jungen Mannes, der sich engagiert, sich anfangs noch ohne Zweifel dem Widerstand verschreibt, und in die des alt gewordenen Kämpfers, dessen Erfahrung hörbar von Enttäuschung untermischt ist enttäuscht auch von den Genossen stalinistischer Prägung, durch Verrat, Misstrauen und Repression in den eigenen Reihen. Peter Fricke spricht den Alten, Robert Stadlober aus Kärnten, Jahrgang 1982, den Jungen.
Wir hören Rüdiger Vogler als Vater, Helga Fellerer gibt der Mutter von Coppi, einem Freund des Ich-Erzählers, Stimme, Katharina Schubert ist als Marcauer zu hören, Hanns Zischler als Poelchau. Eingestreute Geräusche, deren Rätselhaftigkeit gewollt scheint ein Kratzen auf Stein, heftiger Flügelschlag von Tauben, Wassertropfen, Luftzug, sparsamst eingesetzte Minimalmusik (von David Grubbs) -, diese Geräusche sorgen für Strukturierung, aber auch für Irritation. Sie wirken wie audiophone Platzhalter des Unaussprechlichen, wie ein plötzliches Aufquellen der Vergangenheit, die nicht vergangen ist.
Bruckmaiers "Ästhetik" ist alles andere als historisches Ohrenkino geworden, sondern ein Hörspiel, das ganz auf Sprache setzt, das respektvoll vertraut auf den strengen, exakt beschreibenden, manchmal auch dozierenden Stil der literarischen Vorlage von Peter Weiss. Mit großer Ernsthaftigkeit hat sich der Regisseur mit der literarischen Vorlage auseinandergesetzt. Der emotionale Ernst, der die konsequente Atmosphäre dieses Hörwerks ausmacht, rührt vor allem auch aus den Stimmen der hier versammelten Sprechkünstler (meisterhaft: Peter Fricke) her. Das Resultat bürgt für Werktreue, lässt aber auch ästhetischen Eigensinn hören.
Diese zehneinhalb Stunden haben Höhepunkte (wie das Spanien-Kapitel und das Brecht-Porträt), doch die eigentliche Klimax ist konsequenterweise erst in Folge elf und zwölf erreicht: "Plötzensee" und "Die Ausgesetzten". Hier wird an die Hinrichtung der Widerstandskämpfer sympathetisch erinnert, aus dem Kollektiv der Kämpfer treten die leidenden Individuen hervor, nehmen den Hörer für sich ein, zwingen zur inneren Positionierung gegen das Unrecht.
Ästhetisches Lernen als Politik: das ist der Widerstand, die Stirn, die kluge Kunst wie diese der Geschichte bietet. Das Monologische, das Peter Weiss' Roman auch kennzeichnet, löst Bruckmaier zum Ende hin mehr und mehr in dialogische Vielstimmigkeit auf. Beherrschende Frauenstimme zum Schluss: Susanne-Marie Wrage als Bischoff, sie erlaubt dem jungen Stadlober ganz zum Schluss einen Ausbruch schreiender Klage: "Und es würde kein Kenntlicher kommen, den leeren Platz zu füllen. Sie müssten selber mächtig werden dieses einzigen Griffs." Es klingt wie ein Chor der Wiedergänger: Die Hingerichteten kehren zurück und klagen an.
Peter Weiss hat 1976 in seinem Arbeitsjournal notiert: Kunst, Kultur, das bedeutete etwas Weites, Großes, das umschloss überhaupt Kritikfähigkeit, Neuerungswillen, Fähigkeit zum Ausblick. Die visuelle Revolution bedeutete: reicher, tiefer, wahrheitsgemäßer sehen zu können
Ich bin sicher, hätte Peter Weiss dieses rund 30 Jahre nach seinem Roman entstandene Hörspiel noch erlebt, er würde sagen: Es gibt nicht nur eine visuelle Revolution, die unser Wahrnehmen weitet. Es gibt auch eine akustische, eine audiophone, eine radiophone Revolution. Auszuzeichnen ist heute ein Großwerk deutscher Hörspielarbeit und ein Hörbuch, das das Verständnis des großen Romans von Peter Weiss nicht nur vertieft oder überhaupt erst ermöglicht, sondern in sinnenreiche Erfahrungswelten erweitert. Eine solche künstlerische Rundfunkarbeit ist selber: der Widerstand der Ästhetik gegen alle Profanierung von Kultur und Medien.
Laudatio von Roswitha Budeus-Budde:
"Was willst du spater eigentlich mal werden?", wird Thomas, der Held in Guus Kuijers Kinderroman ,,Das Buch von allen Dingen" gefragt: "Glücklich", ist seine Antwort , "ich werde später einmal glücklich". Und der Leser und Zuhörer glaubt es ihm, auch wenn das Leben dieses Neunjährigen, der in den 50er Jahren in den Niederlanden aufwächst, von alttestamentarischer Düsternis beherrscht ist. Nicht nur die abendlichen Bibellesungen des Vaters aus dem Buch Moses über die 10 Ägyptischen Plagen, sind eine Qual, dieser Mann, bigott und brutal, glaubt im Sinne Gottes zu handeln, wenn er bei den kleinsten Dingen, die ihm missfallen, Frau und Sohn schlägt.
Doch Thomas besitzt eine unglaubliche seelische Stärke. Sie hilft ihm, vor der Gewalt in Tagträume zu flüchten, sich in phantastische Szenen zu retten, in denen sich ein naiv kindliches und zum Teil groteskes Verhältnis zu Gott zeigt. So erscheint ihm immer wieder Jesus und überrascht ihn mit ungewöhnlichen verstörenden Trostworten, die die Überforderung des Jungen durch die rigorose religiöse Unterweisung zeigen. So meinte Jesus einmal ,"ich hatte es mit meinem Vater auch nicht leicht."
Als der Junge wieder einmal die Schläge des Vaters überstanden hat, ist er nur noch wütend, sinnt auf Vergeltung und betet: "lieber Gott, kann es dich bitte geben? Alle Plagen Ägyptens bitte sehr. Er hat Mama geschlagen und das war nicht das erste Mal! Gott sagte kein einziges Wort. Die Engel versuchten ihre Tränen zu trocknen, doch ihre Taschentücher waren so nass, dass es selbst in den Wüsten zu regnen begann".
Guus Kuijer hat seinen Helden nicht nur mit Phantasie, sondern mit einer ungewöhnlichen Sensibilität für die Menschen seiner Umgebung ausgestattet "er sah Dinge, die andere Menschen nicht sahen", zum Beispiel die besondere Schönheit des Mädchens Elisa. Er traut sich ihr einen Brief zu schreiben: ,,liebe Elisa, du glaubst vielleicht, du wärst nicht schön, weil du ein Lederbein hast, das beim Gehen knirscht. Oder weil du an der einen Hand nur den kleinen Finger hast und sonst nichts. Aber das stimmt nicht. Du bist das schönste Mädchen, das es gibt. Das schreibe ich nicht, weil ich mit dir gehen will, denn du bist schon 16 und ich erst 9 (fast zehn), das geht also nicht. Ich schreibe es , weil es wahr ist." Als Dank dafür wird er von Elisa mit einem wunderschönen Kuss belohnt und vielleicht wird sie ja später, wenn er älter ist, auf ihn warten.
Doch nicht nur Elisa ist ihm mit ihrer Zuneigung eine Hilfe auch seine Nachbarin Frau Van Amersfort wird ihm eine Verbündete gegen den Vater. Sie, die ihren Mann im Widerstand verloren hat, ist als Hexe verschrien. Längst hat sie bemerkt, was im Nachbarhaus passiert und verrät Thomas die magischen Worte, die ihn gegen den Vater stark machen: ,,Und weißt du, womit das Glück anfängt? Damit, dass man keine Angst mehr hat".
,,Das Buch von allen Dingen" ist eine ungewöhnliche Geschichte, diese Mischung aus Phantasie und Realismus, mal tröstlich, mal verstörend und oft von einer bizarren Komik. Und sie endet, nach einem filmreifen Count-down, in dem Margot, Thomas Schwester dem Treiben des Vaters Einhalt gebietet, tröstlich, voller heiterer Zuversicht, voller Glück.
Wie sehr dieser Text von einer beeindruckenden literarischen Sprache lebt, entdeckt man besonders beim Hören. Rainer Strecker verbindet durch behutsame Intonation die unterschiedlichen Motive der Geschichte. Die oft stakkatoartigen Worte, die das Kind in seiner Not denkt und die kurzen Dialoge, in denen jedes Wort eine Bedeutung hat, alles eingebunden in knappe Szenen, werden so zu einem Hörerlebnis. Es scheint, als ob Guus Kuijer dieses Buch besonders zum Vorlesen und szenischen Gestalten geschrieben hat.
Er selbst scheint mit der Wahrnehmung des Lesers oder Hörers zu spielen, wenn er im Vorwort in verrätselter und verschlüsselter Form andeutet, dass der Junge Thomas vielleicht mehr mit dem Leben des Autors Guus Kuijer zu tun hat, als nur seine literarische Figur zu sein. Und sich gleichzeitig sehr ironisch mit dem Schreiben von Kinderbüchern auseinandersetzt. Eigentlich habe er ein ganz anderes Buch schreiben wollen, kann man da lesen, ,,Ein rührendes Buch, über das man lachen kann. Es sollte von meiner glücklichen Kindheit handeln. Von meinem Vater, der mir auf der Geige vorspielte. So schön" . Es sollte von einer lieblich singenden Mutter und von Geschwistern erzählen, die ihn auf Händen trugen. Und er stellt sich vor, dass dieses Buch ,,Das Abenteuer eines glücklichen Kindes" heißen wird und ein beliebtes Weihnachtsbuch werden würde. Sogar der Ministerpräsident würde es lesen.
Ja, wenn ihm nicht die Geschichte von Thomas dazwischen gekommen wäre. Doch handelt sie nicht ebenfalls davon, wie das Abenteuer Glück auch in einer schwierigen Kindheit gelingen kann. Denn Thomas ist am Schluss glücklich, wenn er in einer heiteren turbulenten Szene mit den Freundinnen der Mutter, den Nachbarinnen und mit Elisa ein Fest feiert, bei dem er Gedichte vorliest und in den Pausen von alten Schelllackplatten Louis Armstrongs Trompete zu hören ist. Sehr zum Missfallen des Vater, aber der hat seine Macht verloren, ist nur noch ein schwacher einsamer Mann, der sich nicht traut dazu zugehören, weil der Angst vor einer Welt hat, die nicht nach den Gesetzen des alten Testaments lebt. Und den Fröhlichkeit verwirrt.
Thomas hat nur noch Mitleid mit ihm, denn Frau Van Amersfoort findet die richtigen Worte, gegen väterliche Gewalt: ,,Du wolltest doch die Plagen Ägyptens. Nicht die Frösche, nicht die Mücken und nicht die Beulenpest, sondern wir selbst sind die beste Plage. Wir Frauen und Kinder. Dagegen kommt kein Pharao an."
Meinen herzlichen Glückwunsch an Guus Kuijer und meinen Dank für dieses besondere, wunderbare Buch und Hörbuch.