Meinung

Inselschreiber: Zwei Inseln und ein Tier

29. April 2010
Redaktion Börsenblatt
Wie es dazu kam, dass ich nach Sylt eingeladen wurde. Von Gernot Wolfram.
Vor einem Jahr besuchte ich eine kleine griechische Insel, die ich gemeinsam mit Freunden von der Reling einer Fähre aus entdeckt hatte. Nur eine ­schmale Hauptstraße führte einen steilen Hang hinauf, helle würfelartige Häuser säumten die Hangpfade,  ringsherum geduldig blaues Meer.
Ich schrieb in einem Hafenhotel an dem Manuskript meines neuen Romans »Die Feuersäule«, eine Geschichte über zwei Menschen, die durch den Anschlag in einer alten Synagoge auf der Insel Djerba auf geheimnisvolle Art und Weise miteinander verbunden sind. Ich hatte mein tägliches Schreibpensum beendet, als ich eines Vormittags von einem Restaurantbesitzer zu einem Oktopus-Essen eingeladen wurde. Ich hatte das Tier in einem Plastikeimer schwimmen gesehen. Große, dunkle Augen, die ängstlich den hungrigen Augen der umstehenden Gäste begegneten. Es erschien mir unmöglich, dieses Tier mit seinen nervös im Wasser umherschwingenden Tentakeln zu essen.
Aus falsch verstandener Höflichkeit ließ ich mich schließlich doch dazu überreden, zumindest ein paar Stücke von den gegrillten Tentakeln zu probieren. Kein einziger Bissen schmeckte mir. Die Augen des Tieres gingen mir in der Nacht nicht mehr aus dem Kopf. Am nächsten Tag schrieb ich eine Geschichte über das Verzehren eines Oktopus, über die sanften Augen, die aus der Enge eines Plastikbassins hervor staunten.
Diese Augen schienen eine Frage zu stellen, die sich auf den menschlichen Hunger bezog, auf die Neugier, warum man das, was man verspeist, vorher appetitsteigernd betrachten will. In gewisser Weise lag darin aber auch die Frage nach dem generellen Hunger, dem Hunger nach dem Schreiben, dem Leben auf einer Insel, dem Hunger nach den Zuständen des Alleinseins, des Nichtalleinseins.
Später erhielt ich für diese Geschichte die Auszeichnung »Inselschreiber Sylt 2010«. Als mich die Nachricht des Preises erreichte, war ich längst wieder in Deutschland. Für einen Augenblick dachte ich: Seltsam, dass diese Geschichte, die auf einer südlichen Insel entstanden ist, dich nun auf eine andere Insel schickt. Seltsam, dass sich Schreiben und Leben auf so merkwürdige Art und Weise verbinden.
Ein Text und ein Tier, beides nahe und ferne Pulsschläge, beide geheimnisvoll und deutlich zugleich, beide dazu in der Lage, Fragen zu stellen, für die in der Alltagssprache gewöhnlich wenig Raum bleibt. Vielleicht ist dies das Wunderbare an Inseln: dass sie den Blick schärfen für die Ereignisse in einem abgetrennten Gelände und somit das innere Auge zum Mikroskop werden lassen.
Wenn ich im Sommer nach Sylt fahren werde, wartet dort viel Spannendes: neue Menschen, Leben in einem Rantumer Apartment, Gespräche, Lesungen und Zeit, um die letzten Korrekturen an meinem neuen Roman vorzunehmen. In gewisser Weise bin ich dem griechischen Oktopus sehr dankbar. Ohne ihn wäre ich vielleicht davor zurückgeschreckt, noch einmal, über Wochen hinweg, Wort für Wort dieses Buches, an dem ich lange geschrieben habe, zu überprüfen.
Da nun diese Zeit wie ein Geschenk im Raum steht, werde ich sie nutzen – und aus Dankbarkeit selbst auf den probeweisen Verzehr jeglicher exotischer Tiere verzichten.