Die Lesungen zur deutschen Gegenwartsliteratur beim 31. Erlanger Poetenfest begannen am Samstag anders als geplant. Pfützen hatten sich auf dem Podium im Schlossgarten gebildet und ein einsamer schwarzer Stuhl wartete im prasselnden Regen vergeblich auf einen Autor. Im Markgrafentheater dagegen ging es turbulent zu. Am Abend zuvor wurde hier der Literaturpreis für Poesie als Übersetzung an Elke Erb verliehen, nun knarzte das Parkett unter den zahlreichen Füßen als Maike Albath und Hajo Steinert die Zuhörer - es waren dieses Jahr insgesamt wieder 12.000 - mit dem möglichen Motto "Lesen ist wie atmen" begrüßten. Sie präsentierten erneut ein hochkarätiges und vielfältiges Programm: Ausstellungen und Filmvorführungen, Podiumsdiskussionen und die Revue der Neuerscheinungen, während der Autoren im Halbstundentakt ihre Werke vorstellten.
Judith Schalansky erweckte in ihrer Lesung in Erlangen die Biologielehrerin Inge Lohmark, die Hauptfigur aus ihrem Roman "Der Hals der Giraffe", zum Leben. Darwinismus in Reinkultur scheint diese spröde und unbewegliche Figur darzustellen. Die Autorin betonte im anschließenden Gespräch jedoch, dass man Darwin zwar lehren könne, fühlen jedoch nur Lamarck. Dessen Auffassung, uns durch Anstrengung weiterzuentwickeln, "den Hals" länger werden zu lassen, gebe unserem Leben Sinn.
Eine eindeutige politische Tendenz ließ sich dieses Jahr aus dem Programm ablesen. So stellte sich der Veranstalter in einer Podiumsdiskussion zum Thema Kultursponsoring selbst der umstrittenen Frage nach dem Hauptsponsor Areva, einem ortsansässigen Atomenergieproduzenten, der das Festival seit sieben Jahren unterstützt. Darf das Produkt eines Sponsors eine Rolle spielen? Die Initiative "Poesie ohne Uranstaub" verfolgt das Ziel, genügend Spenden zu sammeln, um der Stadt den finanziellen Raum für die Suche nach einer anderen Geldquelle zu geben. Neben einer Sonntagsmatinée zum Thema "Entmündigter Souverän" mit dem Büchnerpreisträger Friedrich Christian Delius, waren es Autoren wie Navid Kermani und Abbas Khider, die mit ihren Texten für eine politische Dimension sorgten. Ebenso der chinesische Dichter Liao Yiwu, der im Juli nach Berlin emigrierte, als die Veröffentlichung seines Buchs "Ein Lied für hundert Lieder" im Ausland unterbunden werden sollte. Nach vier Jahren als politischer Häftling in einem chinesischen Gefängnis, in das er 1989 wegen eines regimekritischen Langegedichts geriet, wurde Schreiben für ihn zum Entgiftungsprozess und zur einzig verbleibenden sinnstiftenden Tätigkeit, die seine Menschenwürde wieder herzustellen vermochte. Vor dieser Zäsur taub für die Schreie der anderen, fühlte er sich zu jener Zeit selbst ungehört. Die aktuelle Situation zu erkennen und sich eine Stimme zu verschaffen, von dieser Intention zeugte sein Text über die Zeit in Haft, aber auch sein eindrucksvoller Vortrag, der von musikalischen Einlagen und lautem Herausschreien einiger Passagen geprägt war.
Mit melodiöser Stimme beschwor Zsusza Bánk „Die hellen Tage“ herauf, und vermutlich ist es ihr zu verdanken, dass die Lesungen am Sonntag wieder im sonnigen Schlossgarten stattfinden konnten. Dort schlenderte man zwetschgenkuchenessend zwischen hohen Bäumen umher und hörte Michael Kumpfmüller, Angelika Klüssendorf, Andreas Maier und Alissa Walser zu. „Hörst du mein Lied?“, hieß es bei Ulrike Almut Sandig. Ihre mit Gesangeinlagen gespickte Lesung, die rhythmischen Gedichte von Nora Bossong und der klangvolle Vortrag von Katharina Schultens, die ihre Stimme förmlich über die Zeilen tanzen ließ, machten auch die lyrischen Beiträge zu einer musikalischen Angelegenheit. Hierzu passend wurden in den Pausen "Klang(Ge)dichte" von Markus Stockhausen und Stefan Poetzsch gespielt. „Was bleiben soll“, so Ulrike Almut Sandig, „ist die Musik, glaub ich.“ Und bitte auch das Poetenfest.