Das kleine, kleine Island im Zentrum der Frankfurter Buchmesse! Für uns war das ziemlich unglaublich. Etwa so, als dürften wir beim Eurovision Song Contest sieben Lieder singen. Sie haben es tatsächlich geschafft, in diesem Jahr 200 isländische Bücher zu übersetzen und in die deutschen Buchhandlungen zu bringen. Man konnte keine Zeitschrift und keine große Tageszeitung aufschlagen, ohne eine Besprechung oder Interviews mit isländischen Schriftstellern und Lesern, Verlegern und Lyrikern zu finden.
Es kam uns so vor, als habe jemand Islands Literaturszene mit gigantischen Baukränen aus Reykjavík herausgehoben und in großen blauen Containern komplett nach Deutschland gebracht. Plötzlich war die gesamte Buchbranche Islands in den deutschen Medien. Es war, als erlebe man, wie die eigene Familie über Nacht berühmt wird, und zwar jedes Mitglied der Familie. Die Mutter war im ZDF, der Bruder auf Arte und die »Welt am Sonntag« brachte ein doppelseitiges Interview mit der Großmutter, samt einem obercoolen Foto, wie sie in ihrem Lieblingssessel sitzt und strickt.
Noch nie hat ein kleineres Land mehr Aufmerksamkeit bekommen. Island, verkündete Außenminister Westerwelle in seiner Eröffnungsrede, sei zwar »ein kleines Land, aber in der Literatur ein Gigant«. Und da saßen wir, 40 Schriftsteller vom kleinsten Buchmarkt der Welt, gewohnt, vor einer dreiköpfigen Zuhörerschaft zu lesen und seit 20 Jahren dieselben beiden Literaturkritiker zu ertragen, und schauten uns ungläubig an. Ein Gigant?
Nun gut. Dann sind wir eben Giganten. Mit seinen 300 000 Einwohnern ist Island etwa so groß wie die Frankfurter Buchmesse mit ihren knapp 300 000 Besuchern. Unsere Nation hat die Größe einer Buchmesse! Man könnte durchaus sagen, dass Island eine einzige große Buchmesse ist. Jede Wohnung und jedes Haus in Island ähnelt einem Messestand, denn in jedem Wohnzimmer steht ein Standardregal mit einhundert Büchern. Der einzige Unterschied besteht darin, dass in den Ständen dieser »isländischen Buchmesse« alle Fernsehen gucken. Isländer kaufen zwar viele Bücher, aber ich fürchte, dass sie in den letzten Jahren das eine Facebook den vielen gekauften vorziehen.
Wie hat es dieser Ehrengast geschafft, zur Messe so viele Bücher mitzubringen? Warum hat Island so viele Schriftsteller? Das wurden wir in Frankfurt in jeder Halle, auf jeder Rolltreppe gefragt. Nun, als die Wikinger kamen, war Island eine leere Insel. Und weil sie vergessen hatten, ein Buch auf diese verlassene Insel mitzubringen, fingen sie an zu schreiben ... Und haben damit nicht mehr aufgehört.
Aber warum sind die Deutschen so verrückt nach Island? Diese Frage stellten wir uns selbst, als wir Tausende von Besuchern in den Island-Pavillon strömen sahen. Sie kamen von überallher, bärtige Lehrer aus Hoffenheim, ältere Damen aus Hannover, junge Schönheiten aus Göttingen, alle hungrig nach Lava und Literatur. Die Antwort fand ich in dem Kubus, in dem Filme über isländische Landschaften, Seen und Vulkane gezeigt wurden. Nachdem ich zehn Tage lang durch Deutschland getourt war und nichts anderes gesehen hatte als Baum, Baum, Baum und einen Bahnhof, Baum, Baum, Baum und einen Bahnhof ... war es eine große Erleichterung, in dieser Weite, den Fjorden und Bergen durchatmen zu können. Endlich verstand ich diese Islandmanie. Deutsche hungern nach Landschaften.
Deutsche brauchen Island wie Wale Sauerstoff. Sie müssen hin und wieder auftauchen, um zu atmen. Der Weg dorthin ist ziemlich weit, aber wir haben ihnen wenigstens etwas zum Lesen mitgegeben.
Aus dem Englischen von Ebba Drolshagen
Von Hallgrimur Helgason erschien zuletzt: "Eine Frau bei 1000°" (Klett-Cotta)