Siebenhundert lautet die ominöse Zahl. Jedes Jahr werden immer wieder ziemlich genau 700 Texte zum Open Mike geschickt, dem wichtigsten Nachwuchswettbewerb der deutschsprachigen Literatur. Die neue Medienwelt hat daran nichts geändert. Auch die Digital Natives schreiben wie eh und je Gedichte und Geschichten und senden sie an die Berliner Literaturwerkstatt, in der Hoffnung, zu den gut zwanzig Finalisten zu gehören, die im Kulturzentrum „Wabe" am Prenzlauer Berg ihren Text vortragen dürfen – vor einem erstaunlich großen, erstaunlich konzentrierten Publikum, das höchstens halb so alt ist wie üblicherweise bei Lesungen, gefühlte Siebenundzwanzig. Am vergangenen Wochenende, im neunzehnten Jahr des Wettbewerbs, schwirrte die „Wabe" wieder vor Leben wie ein gut geführter Bienenstock.
Beim Open Mike dürfen alle mit einem offenen Mikrofon rechnen, die nicht älter als 35 sind und noch keine eigenständige Buchveröffentlichung vorzuweisen haben – sofern ihr Text unter den 700 eingesandten Manuskripten für die Endrunde ausgewählt wird von den sechs Lektoren, die den gewaltigen Stapel gemeinsam bewältigen und filtern. Unter all den Schreibversuchen, die ums liebe Ich, die liebe Familie oder die Liebe an und für sich kreisen, suchen sie jene heraus, die am ehesten literarische Formung erkennen lassen. Die Rosinen im Quarkkuchen zu finden, sei aber gar nicht so schwer. Qualität ist eine Pyramide, unten breit, oben spitz. Üblicherweise will sich die Jury – in diesem Jahr Felicitas Hoppe, Kathrin Schmidt und Tilman Rammstedt – die Entscheidung nicht abnehmen lassen vom Gelächter des Publikums. In diesem Jahr aber gab es eine Schnittmenge: Die fünfunddreißigjährige Christina Böhm wurde von den Zuhörern bejubelt, und sie bekam neben dem Preis der Jury den Taz-Publikumskreis.
Ihre rasante Geschichte „Platzanweisung“ erzählt vom „schlechtesten Tag im Leben“ einer jungen Frau, die ihren Platz nicht findet. Gerade wurde ihr Theaterstück von einer szenig-coolen Dramaturgin abgelehnt – und die Erzählung entwickelt daraus die bitter-komische, bis in die Gewaltphantasie getriebene Suada über eine Welt, in der alle Türen verrammelt sind. Groß die Sehnsucht nach westernmäßigen Lösungen: „In ein Lokal spazieren und die Feinde erledigen und die Welt ist geändert.“
Ausgezeichnet wurde auch die ebenso skurrile wie experimentierlustige Kafka-Geschichte „Dora Diamant“ des erst zweiundzwanzigjährigen Joseph Felix Ernst.
Die Jury warnte die Autoren am Ende davor, zu sehr auf Marktgängigkeit zu schielen und ermutigte zur Pflege des literarischen Eigensinns. Zur Erfolgsgeschichte des Wettbewerbs gehören viele inzwischen prominente Autorennamen, darunter Julia Franck und Karen Duve. Judith Zander ist der jüngste Fall einer Open-mike-Karriere: 2007 hat sie den Lyrikpreis gewonnen. Die anwesenden Verlagsscouts prüfen jeden Beitrag genau: Lässt sich aus der schönen Kostprobe eine sättigende Hauptmahlzeit machen? Womöglich ist einer der drei glücklichen Preisträger, die diesmal am Ende mit scheuem Beginner-Charme in die Kameras lächelten, bald ein Routinier des Literaturbetriebs.