Kommentar zur Occupy-Bewegung von Uljana Wolf

Besetzt Barbiere

2. Dezember 2011
Redaktion Börsenblatt
Warum einem A nicht gleich B folgen muss. Die Schriftstellerin Uljana Wolf über das tanzende Alphabet der Wall-Street-Aktivisten.
Besetzen kommt vor Besitzen. Nach A-Sagen und Bank, vor Rasieren und Schlaf. Zumindest, wenn es nach dem Alphabet geht, das unsere Bahnen lenkt und dabei jenen Ordnungen ähnlich ist, die so tun, als wären sie nicht leicht aus den Angeln zu heben. Wie Finanzwesen, Kapitalismus, Wachstum. Oder wie die Aufforderung, die Wall-Street-Aktivisten mögen endlich konkrete Forderungen stellen. Heißt das doch, die vielstimmige Besetzung im öffentlichen Raum ist nur legitim, wenn sie sich in diskursiven Besitz verwandelt, der für Zugeständnisse wieder abgegeben wird. Als solle, wer den Mund zum A-Sagen aufmacht, rasch sein B loswerden – wobei man gewöhnlich die Lippen schließt. Geschlossene B’s sind Systemen lieber, sie lassen sich leichter einbauen in die Ordnung mit dem Doppelbauch.

Aber es geht noch ums A. Mit seinen trotzigen Beinen wollte es schon immer offener sein, etwas weniger dazugehören. Aleph, ein entfernter Verwandter, besitzt nicht mal einen Lautwert: Der erste Buchstabe im hebräischen Alphabet ist als Knacklaut einerseits Teil des Systems, andererseits seine Voraussetzung. Oder, wie Spinoza meinte, der Beginn eines Geräuschs in der Kehle.

Das A-Sagen der Wall-Street-Besetzer ist genau das: Voraussetzung zur Veränderung, Knacken eines Systems, auf das, wie man sieht, vielleicht nie Verlass war. So stellt die Bewegung Ordnungen infrage und bringt – inspiriert von Aleph und Alif, dem arabischen Frühlingsverwandten – Alphabete und Abläufe durcheinander. "New Paradigm Under Construction – Please Pardon The Mess" steht dann auf einem Plakat. Unordnung, Verweigerung und die Suche nach neuen Formaten sind Teil dieses Prozesses.

Ich muss an Ilse Aichinger denken, die die Welt "Wult" sein ließ und im Wirtschaftswunderjahr 1951 schrieb: "Form ist niemals aus dem Gefühl der Sicherheit entstanden." Die Forderung nach der Forderung der Aktivisten maskiert im Grunde nur ein Beharren auf sanktionierten Formen, die das System nicht aus den Angeln heben, nur ein wenig quietschen lassen. Die Bewegung aber braucht Fragen, Formen, die in der Unsicherheit angesiedelt sind, dazu Forderungen, die – obwohl es sie gibt – zunächst unformuliert bleiben. Slavoj Zizek nannte dieses Schweigen "unseren ›Terror‹". Vielleicht könnte man, mit einem anderen Aichinger-Satz, die Stille auch als Engagement bezeichnen, als Widerstand und unbesetzte Mitte, in der die zur Veränderung notwendige Offenheit wächst: Aleph und Nichts.

Und was hat das mit Barbieren zu tun? "Wo ich wohne gibt’s viele barbershops", sagte neulich ein schwarzer Diskussionsteilnehmer der General Assembly in New York. Sein "wo" meinte Brooklyn, Queens, die Bronx, vorrangig schwarze Nachbarschaften, in denen Barbierstuben alteingesessene Orte für soziale Debatten sind. "Da will ich hingehn und den Leuten klarmachen, dass Occupy überall sein kann, dass dies auch ihre Bewegung ist!"

Unsere Antwort waren erhobene, tanzende Finger, eines der Hand-zeichen, mit denen auf der GA kommuniziert wird. "Besetzung ist Gespräch, Prozess, Praxis", fasste eine Frau neben mir zusammen, "nur so wird es Veränderung geben." Die Finger waren kaum zu halten. Sie waren das neue, tanzende Alphabet einer Bewegung, die nicht von Forderungen oder kurzfristigen Maßnahmen lebt, sondern dem erwachten Bewusstsein, dass Ordnungen nicht nur hinzunehmen sind. In diesem Sinne muss hier natürlich eine Forderung stehen. Besetzt Beziehungen, Familien, Betriebe. Besetzt Barbiere! Vielleicht werden es die neuen Wechselstuben sein.