Kommentar

Zweiweltentheorie

8. Dezember 2011
Redaktion Börsenblatt
Nicht Verdrängung, sondern Koexistenz: Auch 2020 könnten gedruckte Bücher neben E-Readern unter dem Weihnachtsbaum liegen. Ein Kommentar von Börsenblatt-Redakteur Michael Roesler-Graichen.

Die Vision, dass 2020 unter dem Weihnachtsbaum keine gedruckten Bücher mehr liegen, muss nicht ärztlich behandelt werden. Sie fällt unter das Grundrecht auf Meinungsfreiheit. Für digitale Avantgardisten hat sie sogar einen hohen Grad an Plausibilität. Es könnte aber auch anders kommen: Dass 2020 neben dem schicken neuen Reader, der nur noch entfernt an die heutigen Modelle erinnert, liebevoll gebundene, typografisch ansprechende, innovative Bücher stehen. Dass es neben einer digitalen Kultur ein mehr oder minder analoges Milieu mit erstaunlichem Beharrungsvermögen gibt – was so manche Umfrage nahelegt.

Je länger man über das Medium Buch und seine vielfachen Verkörperungen, die es seit Jahrhunderten angenommen hat, nachdenkt, desto klarer schält sich doch ein Gedanke heraus: Das sogenannte E-Book ist zunächst keine weitere, durch eine neue Technologie ermöglichte Materialisation von Inhalten, sondern nur dessen virtuelle, mithilfe von Hardware, Software und Display bewerkstelligte Repräsentation. Als abgeleitetes Medium wird es zunächst in der Buchlogik befangen bleiben, bevor es sich zu etwas anderem entwickelt, das die Buchwelt hinter sich lässt.

Dass wir es 2020 mit einem Markt zu tun haben, in dem die Welten des E-Books und des gedruckten Buchs koexistieren – darauf könnte man wetten. Das digitale Medium würde alle seine Stärken ausspielen: Mobilität, Verfügbarkeit, Durchsuchbarkeit, Interaktivität und mehr. Das gedruckte Buch hingegen wäre als das gesucht, was es immer schon in seiner besten Ausprägung war: ein Raum der Reflexion, eine Zuflucht vor einer beschleunigten, flüchtigen Informations- und Reizkulisse.