Alfred-Kerr-Preis 2017: Dankesrede

König ohne Land

20. März 2017
von Börsenblatt
Andreas Breitenstein wurde am ersten Tag der Leipziger Buchmesse mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet. Seine Dankesrede. 

Ich habe lange nach dem ersten Satz meiner Ansprache gesucht – und das war er schon, dieser erste Satz. Brillant hätte er sein müssen, der Bedeutung dieses Anlasses angemessen, und nun ist er ganz banal herausgekommen. Kein Pomp nirgends und nur ein klein wenig Umstände. Doch zum Glück ist ja noch so gut wie nichts gesagt und alles noch offen, so dass einer, der nicht wie Sie zum Sitzenbleiben und Zuhören verdammt ist, vielleicht doch hängen bleibt – in der Hoffnung, dass noch etwas kommt, was der Rede wert war.

Womit der Anfang nun geschafft wäre, und wir uns meinem Thema, der Literaturkritik, zuwenden können – in Hommage an den Namensgeber dieses Preises: Alfred Kerr.

Als junger Kritiker habe ich immer gedacht, Wohl und Wehe einer Rezension hänge vom ersten Satz ab, so dass ich mir tagelang den Kopf darüber zerbrach, wie ich am besten den Panther machen und dem Leser an die Gurgel springen könne. Mittlerweile bin ich von dieser Strategie abgekommen – sie erscheint mir so sinnvoll, wie Liebe auf den ersten Blick erzwingen zu wollen.

Und so fange ich nun einfach an mit Schreiben, im Vertrauen darauf, dass die Sympathie des Lesers sich mit meiner eigenen Leidenschaft für die Sache einstellt. Wichtig ist es, eine Rezension mit den ersten Sätzen zu Atem kommen zu lassen und eine gleich dreifache: intellektuelle, emotionale und sprachliche Verbindlichkeit herzustellen – zwischen mir, dem Buch und dem Leser. Ich versuche stets, dem Text Dichte, Druck und Dringlichkeit zu verleihen, was nicht schwerfällt, wenn ich von einem Werk beseelt bin. Das Buch ist ja auch ein Spiegel – man liest sich selber immer mit. Dabei kann das als grandios empfundene Andere leicht zur Selbstberauschung führen. Gerade weil die Begeisterung dazu neigt, sich selber zu genügen, ist das Lob durchweg schwammiger begründet als der Verriss.

Doch auch Verdruss verleiht Flügel – und schärft den Intellekt. Und das ist gut so, denn ein Verriss verlangt nach besonders eingehender, ja hellsichtiger Begründung. Freilich vermag Frustration den Sinn für Fairness auch zu trüben. Wo man Literatur als narzisstisch, unbedarft oder ideologisch erlebt, kann man als Kritiker leicht untergriffig werden.

Durch Langeweile muss man hindurch wie durch Unentschiedenheit. Manchmal will sich ein Urteil einfach nicht einstellen, verschlingen sich Beobachtung, Empfindung und Gedanke zu einem Knäuel, den es zu entwirren gilt. Ja-aber-Rezensionen mögen nicht so attraktiv sein, dafür aber sind sie ehrlich. Meine Spielregel ist, mich ganz auf ein Werk einzulassen, was nur ab einem gewissen Härtegrad möglich ist. Literaturkritik müsste einfacher gehen, denke ich oft, wünsche es mir, doch sie bleibt so schwer, wie ihr Gegenstand es verlangt. Oft sieht man sich mit Grenzerfahrungen grausamster Art konfrontiert. Geglückt ist eine Rezension, wenn man ihr die Mühen ihres Zustandekommens nicht mehr anmerkt. Diese Paradoxie teilt die Kritik mit der Kunst.

Und dann gibt es, gar nicht so selten, Verwirrung und Qual. Es herrschen in den von den beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts gemarterten osteuropäischen „Bloodlands“, deren Literatur mir besonders am Herzen liegt, nun einmal andere existenzielle Druckverhältnisse. Noch immer werden in Europas Osten Traumata literarisch abgearbeitet – das Schöne erweist sich hier oft als des Schrecklichen Anfang. Ist der Stoff ein Tritt in die Magengrube, so die Form der Kinnhaken. Wenn ich durch die Mühlen des Mitleidens gedreht werde und im Labyrinth der Strukturen den Faden verliere – dann verfluche ich meinen Hang zur Genauigkeit und würde mich gerne ins Ungefähre retten.

So staune ich immer noch, dass mich poetische Elementarereignisse wie David Albaharis Roman „Die Ohrfeige“, Péter Nádas' „Parallelgeschichten“ oder Imre Kertész' Aufzeichnungen nicht einfach hinweggefegt haben. Auch László Krasznahorkai und Georgi Gospodinov haben mich mit Haut und Haaren verschlungen. Sie alle betreiben die Fortsetzung der Mystik mit den Mitteln negativer Ästhetik, das heißt: sie stellen das Nicht-Darstellbare durch Nicht-Darstellen dar. So dass es für einen Kritiker von Vorteil ist, religiös nicht ganz unmusikalisch zu sein. Zumindest sollte er die Sehnsucht der Schriftsteller kennen, glauben zu können. Was sie ja nie wirklich tun werden. Denn religiöse Gewissheit könnte ihnen den Zweifel austreiben, aus dessen Tiefe und Tragik heraus bedeutende Literatur fast immer erwächst.

Den Leser bei der Stange zu halten, ist auch eine Frage der Dramaturgie. Man kann auf Pathos oder Understatement, auf Ernst oder Witz setzen. Man kann induktiv vorgehen, das heißt: das Urteil aufschieben. Oder deduktiv, sprich: die Katze gleich aus dem Sack lassen. Wichtig war es mir stets, den Inhalt eher beiläufig zu erzählen – denn dass es eigentlich auf den Plot ankomme, ist ein antiliterarisches Vorurteil. Entscheidender sind Sprache und Form. Es gibt Texte, etwa von Bora Ćosić, die nur aus der Magie montierter Sätze bestehen.

Wunderbar, gibt es Preise auch für Literaturkritik! Doch gilt es die Relation zur Literatur zu wahren: Der Kritiker wirkt im Weinberg der Kunst, er betreibt lustvoll die Hege und Pflege dessen, was der ewige Drang zur Verwandlung der Welt mittels Phantasie hervortreibt. Denn im Dichten und Erzählen gewinnt der Mensch Macht über das zurück, was sich seinem Zugreifen und Begreifen entzieht – über Zufall und Schicksal, Glück und Leid, Liebe und Tod, die Persistenz des Bösen und die Offenbarung des Guten.

Als Literaturkritiker suche ich das Überragende zu erkennen, das Neue zu fördern, das Bewährte zu bewirtschaften, das Mittelmäßige einzudämmen und das Schlechte zu „verarzten“, so es denn zeitgeistig symptomatisch oder ästhetisch interessant ist. Dies auf der Basis einer stereoskopischen Kunst von Empathie und Anschauung, Abstraktion und Argument. Idealerweise sollen Herz und Kopf, Nähe und Distanz, Originalität und Sprachkraft, Scharfsinn und Mut, Tiefe und Witz zusammenkommen. Und es soll sich Demut mit Radikalität paaren. Als Kritiker, scheint mir, bin ich eine Art Medium – meine Texte wenden sich dem Leser zu und nähern sich dem Kunstwerk an, ohne freilich selbst Kunst sein zu wollen. Wenn ich Glück habe, werde ich zum Geburtshelfer von Werken, die ihren Platz im Literaturhimmel finden.

Nicht immer kommen wichtige Bücher von allein auf die Beine. Literatur, welche die Ambition hat, die Komplexität unserer Zeit zu erfassen, darf auf eine Ästhetik der Vergeblichkeit nicht verzichten. Man kann als junger Autor den Stoff seiner autobiografischen Erfahrung durchaus zu einem soliden Roman arrangieren, so als habe es die Destruktion des Erzählens nie gegeben – freilich sollte man nicht erwarten, damit literarisch Herausragendes geleistet zu haben.

Gemäß der Ästhetik der Moderne, deren unverdrossener Verfechter ich bin, kommt mit einem Kunstwerk etwas Neues in die Welt, etwas, auf das keiner gewartet hat, das quer steht und sich seinen Weg erst bahnen muss. Es in seiner Andersheit zu erkennen, erfordert Spürsinn und Wachheit. Es gehört zu den großen Momenten eines Kritikerlebens, sich ganz früh schon um Solitäre verdient gemacht zu haben. Mir ist das etwa mit Lojze Kovačičs Erinnerungen „Die Zugereisten“, mit Mircea Cartarescus Romantrilogie „Orbitor“ sowie mit Roberto Bolaños poetischen Vexierspiegeln der Vernichtung und des Begehrens gelungen. Es sind dies Werke, die jeder Beschreibung zu spotten scheinen.

Es ist hier vielleicht der Ort zu sagen, dass ich niemals die Ambition hatte, ein Schriftsteller zu werden. Die Mär vom Kritiker als gescheitertem Autor ist ein Klischee, das Kritik delegitimieren soll. Ich habe keine vergilbten Manuskripte in der Schublade und keine verschollenen Files auf der Festplatte und kann ihnen versprechen, nie einen Roman zu verfassen – auch keinen Literaturbetriebsroman. Im Gegenteil bin ich froh, kein Dichter sein zu müssen, denn ich neige dazu, diese für unglückliche Wesen zu halten. Große Autoren sind Getriebene ihrer Seele und wissen oft selbst nicht, was und wie sie es tun.

Eben das ist für mich eine merkwürdige Erfahrung geblieben. Aleksandar Tišma, der serbisch-jüdische Autor, der in seinen Romanen wie kaum sonst einer in die Abgründe des Bösen blickte, ist mir als liebenswürdiger älterer Herr mit Hut in Erinnerung geblieben. Lars Gustafsson war der witzig-charmante Hüter seiner vielsagenden „Joohs“; und Imre Kertész hatte seine herrlich-joviale Fassade, mit der er die Leute auf Distanz hielt.

Wie aber erkenne ich, ob Literatur funktioniert? Ein Roman etwa ist die Summe des Zusammenspiels verschiedenster Momente. Wie bei einer Maschine müssen alle Teile ineinandergreifen. Die Mittel der Darstellung sollen zum Dargestellten passen, gleichzeitig muss beides symbolisch übertragbar sein. Ein literarisches Kunstwerk ist offen und geschlossen zugleich. Im Akt des Lesens kommt es zu sich selbst und wird gleichzeitig ein Anderes. Es prägt dem Leser eine Wirklichkeit auf und schenkt ihm zugleich die Freiheit, sich dieser Wirklichkeit als König ohne Land zu bemächtigen. Im Gegensatz zur Ideologie, die auf alles Antworten zu haben vorgibt, ist Literatur dazu da, alles in Frage stellen. Sie zieht vergilbte Vorhänge zur Seite und reißt die Fenster weit auf.

Ein Lackmustest für Kunst ist, wie sehr sich die Phantasie darin einnisten kann. Ich halte es für sinnlos, den Literaturbegriff auf das Fiktionale einschränken zu wollen. Mariusz Wilks grandiose Sibirien-Reportagen sind für mich ebenso weltenschöpferisch wie Swetlana Alexijewitschs Gesprächsprotokolle über den „homo sovieticus“. Auch Geschichtswerke und Traktate, Essays und Briefe, Reiseberichte und autobiografische Erinnerungen können literarisch satisfaktionsfähig sein. Die Literatur ist ein weites und vielgestaltiges Land.

Jedes Werk ist der Zeit geschuldet und trägt in sich den Keim der Ewigkeit. Wie sich seine Rezeption entwickelt, bleibt ein Geheimnis. Ein Buch hat viele Leben, und sein Sinn kann im Lauf seiner Verwirklichungen über seine Geschichtlichkeit hinauswachsen – ins Unendliche epiphanischer Bedeutsamkeit. Es ist eine Frage der Weltanschauung, ob man mit Adam Zagajewski glaubt, dass Kunst metaphysische Räume erschließe. Dass es eine höhere geistige Ordnung gibt, ist zumindest eine Vorstellung, in die man sich als Literaturkritiker leicht verlieben kann.

Eine Rezension kann nur eine erste Momentaufnahme sein. Auch hier gilt es, Ergebenheit zu üben: Als Literaturkritiker bin ich in meinem Urteil an die Zeit gebunden und obendrein nur einer von vielen, Teil eines Chors, in dem es auf die einzelne Stimme gar nicht so ankommt. Das ist kein Grund zur Traurigkeit, sondern zur Gelassenheit: Ich durfte mich also ruhig auch einmal irren, zum Beispiel bei … – aber lassen wir das.

Nun, wo ich auf die Zeitbedingtheit von Literatur und Kritik zu sprechen gekommen bin, noch dies: Ich habe den Eindruck, dass sich das literarische Feld in einer ernsthaften, ja epochalen Krise befindet. Wir erleben einen Zerfall der Bildung und der Lesekultur – jenes Humus, auf dem die Passion für Literatur gedeiht. Die Entwertung des einheitlichen Sinns und des symbolischen Raums hat mit dem Dekonstruktivismus begonnen und findet seine Fortsetzung im Netzuniversum, in dessen unendlichen Räumen originäre Phantasie und fokussierte Aufmerksamkeit verdampfen. Gegen die digitalen Text- und Bilderfluten hat hohe Literatur einen schweren Stand, ist sie doch das Gegenteil von Hysterie und Zerstreuung.

Symbolische Prozesse brauchen Zeit – wir glauben, sie nicht mehr zu haben. Ein gehaltvolles Buch zu lesen, schafft Freude und Genuss, erfordert aber auch Arbeit und Disziplin. Die Macht der Verwandlung überkommt nur den, der sich um sie bemüht. Wo aber die Utopie einer durch Literatur zur Wahrheit erhobenen Existenz verblasst und das frei gewordene Feld mit Populärem sich füllt, da droht auch die Literaturkritik Schaden zu nehmen. Denn mag der Kritiker seine Maßstäbe auch hochhalten wollen, er muss sich im verschärften Kampf um Aufmerksamkeit, Platz und Honorare nach Maßgabe seiner sozioökonomischen Situation «rational abwägend» zu dem verhalten, was vorhanden ist. Das untergräbt sein Urteil.

Womit ich zum Schluss komme, der Klimax jeder Kritik. Das Ende sollte noch einmal alles sein und viel mehr: Verdichtung und Überhöhung, aber auch Entladung und Entspannung. Jetzt kann – im Idealfall – dem Leser nur das Buch helfen… Aber das hier ist schließlich eine Rede und keine Rezension, so dass der letzte Satz auch ganz banal sein darf. Und das war er denn schon.

Andreas Breitenstein