Nico Bleutge im Porträt

"Kultivierte Schizophrenie"

16. Februar 2016
von Christiane Petersen
Nico Bleutge erhält in diesem Jahr den vom Börsenblatt gestifteten Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik. Der Berliner Schriftsteller ist nicht nur Literaturkritiker, sondern auch Lyriker. Kann man beides zugleich sein? Was kommt denn dabei heraus? Nun, im Idealfall eine Auszeichnung. Ein Porträt des Dichters.

Nico Bleutge macht beim Gehen große Schritte. Auf den Rhythmus komme es an, beim Schreiben wie beim Spazieren, sagt er und läuft am Landwehrkanal entlang, der die Berliner Stadtteile Kreuzberg und Neukölln voneinander trennt. Hin auf der Kreuzberger Seite, über die Brücke und zurück am Neuköllner Ufer, er mag diese Strecke. Grenzen zu überschreiten, beide Seiten zu betrachten und Positionen zu verbinden, das passt zu dem Lyriker, der zugleich Kritiker ist und im März den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik erhält.

"Kultivierte Schizophrenie" nennt Bleutge seine Doppelrolle, die ihm hervorragend gelingt. "Ich musste erst lernen, das dichterische mit dem analytischen Schreiben zu vereinbaren", erklärt er, inzwischen angekommen in der Ankerklause, der "schönsten Hafenbar Berlins". Vereinbaren, das heißt für ihn, die richtige Zeiteinteilung, den richtigen Rhythmus für seine Arbeit finden: bis Mittag das literarische Schreiben, dann ein Spaziergang, der Nachmittag gehört der Literaturkritik. Dabei verknüpft Bleutge mühelos Sprachwelten und Wahrnehmungswelten.

Nico Bleutge sieht aus wie einer, der im Norden zu Hause ist: Der 43jährige ist groß, athletisch, das blonde Haar zu einem Zopf gebunden, die Augen blaugrau, ernsthaft der Blick. Geboren wurde Bleutge aber 1972 in München. Er wuchs in Pfaffenhofen an der Ilm auf, wo es "damals stinklangweilig und konservativ war und nichts gab außer Hopfenanbaugebiete". Nach dem Abitur Aufbruch nach Tübingen, dort studierte er Neuere Deutsche Literatur, Allgemeine Rhetorik und Philosophie.

Bestechend präzise  
Wie er zum Schreiben kam? »Über das Lesen«, will Bleutge antworten, verspricht sich und sagt: »über das Leben«. Er lacht. Beides stimmt wohl. In seinen Essays und Gedichten - bisher sind drei Bände bei C. H. Beck erschienen - tauchen Zitate anderer Dichter und Autoren auf, Impulsgeber wie Inger Christensen, Jürgen Becker oder T. S. Eliot.

Impulse für das Schreiben seien aber auch Beobachtungen, die sich vom alltäglichen Wahrnehmen abheben, Sätze oder Erinnerungen aus dem "Gedächtnispool, das der Urspeicher des Schreibens" ist. Als "konzentrierte Euphorie" hat Bleutge den Zustand des dichtenden Schreibens häufiger bezeichnet. Für seine Lyrik hat er zahlreiche Preise und Stipendien erhalten, nun werden erstmals seine Kritiken gewürdigt. Der Kritiker Bleutge hat vieles mit dem Dichter gemeinsam: Bestechend präzise sind beide, konzentriert, sezierend. Zugleich sind sie geduldige Beobachter, vorsichtig inneren Zusammenhängen nachspürend, mit einem außergewöhnlichen Bewusstsein für Form, Rhythmus und Sprache. Bleutge beurteilt nie grob; klug tastet er einen Text auf seine Stärken und Schwächen ab, manchmal auch mit einem Augenzwinkern.

Prägt das eigene dichterische Ringen die Haltung des Kritikers Bleutge? Er lehnt sich etwas zurück auf der blauen Bank in der Ankerklause, zieht die Augenbrauen hoch, das tut er gern beim Denken: "Mit Sicherheit. Ich weiß um die Verletzlichkeit und um die Arbeit, die in jedem Werk steckt. Und merke auch schnell, wenn geschludert wird."

Aus der "kultivierten Schizophrenie" von Dichter und Kritiker ist vielleicht längst eine sich gegenseitig befruchtende Zusammenarbeit geworden, eine indirekte Reflexion des eigenen Schreibens durch die Literaturkritik. "Ja, ich kann das Eigene am anderen schärfen", sinniert Bleutge. 2017 erscheint sein nächster Gedichtband. Auf der Leipziger Buchmesse 2016 gilt die Aufmerksamkeit nun aber ganz seinem Wirken als Literaturkritiker.