Kilian Kissling über mehr Mut bei neuen Vertriebsaktivitäten

Ist der Kannibale wirklich so böse?

8. Dezember 2017
Redaktion Börsenblatt
Skepsis gegenüber Flatrates und Unterhaltungsangeboten bei der Lufthansa? Das kann Kilian Kissling, Geschäftsführer von Argon und Vorsitzender des Landesverbands Berlin-Brandenburg, überhaupt nicht verstehen. Die These der per saldo schädlichen Kannibalisierung durch neue Angebote sei ein unbewiesener Mythos und bremse dringend notwendigen Mut.

Bücher in der Flatrate oder im Unterhaltungsangebot der Lufthansa? Im Flixbus oder im ICE? Was für ein Aufreger! Da können Menschen gegen eine Monatsgebühr so viel lesen oder hören wie sie wollen. Da können Menschen auf Reisen ja einfach über ein neues Buch stolpern und es – Achtung! – kostenlos kennen lernen. Sie könnten die Wertschätzung für das Werk von Autorinnen und Autoren, für unsere Arbeit verlieren, während sie einfach ihre billige Neugier befriedigen. Und dann kommt auch noch der Kannibale aus seinem Versteck, denn bei solchen Angeboten droht bekanntlich schlimmste Kannibalisierung.


Ein Kulturgut frisst sich selbst

Ja, die Kannibalisierung. Die wird jetzt wieder ganz häufig ins Feld geführt. Das Bild ist stark: Da frisst eine billigere Angebotsform eine hochwertigere, etablierte auf. Da frisst ein Kulturgut seinesgleichen, so wie der Kannibale sich von der eigenen Spezies ernährt. Es ist ein Tabubruch, es ist eigentlich geradezu ekelerregend.

Nun ist der Begriff Kannibalisierung vor allem dann in Mode, wenn sich die Branche mit neuen Vertriebsmodellen beschäftigt und Grenzen verschoben werden. Interessanterweise findet der Begriff bei althergebrachten Phänomenen keine Verwendung: Etwa bei der Frage, inwieweit Taschenbücher das Hardcover kannibalisieren könnten, oder gar verschiedene Bücher innerhalb des Programms eines Verlags oder in der Abteilung einer Buchhandlung sich untereinander. Kein Buchhandelsvertrieb fragt sich, ob die 20 Exemplare eines Titels, die soeben die eine Buchhandlung bestellt hat, eine Gefahr für den Abverkauf der Buchhandlung in der Nähe sein könnten, die ihrerseits bereits gestern 25 Exemplare bezogen hat. Nein, der Begriff Kannibalisierung ist unbedingt reserviert für neue Aktivitäten!

Lehrbeispiel Apple

Das Prinzip der Kannibalisierung an sich ist ja ohne Frage existent. Als ein Lehrbeispiel dient oft die Einführung des iPads von Apple. Apple führte das neue Gerät sehenden Auges ein, wohl wissend, dass unter den potenziellen Käufern viele sein würden, die ansonsten teurere Apple Notebooks erworben hätten. Tatsächlich verkaufte Apple allein im 3. Quartal 2017 14,3 Millionen iPads weltweit, von den Macbooks im selben Zeitraum „nur“4,3 Millionen Stück. Allerdings verkaufte Apple im letzten Quartal vor der Einführung des iPads im Jahr 2010 gerade einmal 2,9 Millionen MacBooks, damals ein sehr guter Wert, genau genommen war es das drittbeste Quartal bis dahin. Was ist also passiert? Apple musste vermutlich innerhalb der 2010 vorhandenen eigenen Gefolgschaft signifikante Verschiebungen von teureren MacBooks zu weniger teuren iPads hinnehmen. Dem standen allerdings erhebliche Zugewinne an neuen Kunden für die Marke gegenüber, von denen beide Gerätegruppen profitierten. Unter dem Strich wurde hier also unter Inkaufnahme der Kannibalisierung eine anscheinend sehr erfolgreiche strategische Entscheidung getroffen. Nur einmal angenommen, Apple hätte das nicht getan, etwa aus Angst, vorhandene Kundschaft an eine preiswertere Geräteklasse zu verlieren: Was wäre passiert? Vermutlich hätten andere Anbieter früher oder später die Geräteklasse Tablet vorangetrieben und Apple hätte wahlweise nachziehen oder zusehen müssen.


Die Kollegen von der Musik...

Das ist Ihnen zu weit weg von unserem Medium? Dann schauen wir uns in der näheren Nachbarschaft um. Was machen denn unsere Kolleginnen und Kollegen aus der Musikwirtschaft? Jahrzehntelang duldet sie, dass Musik aus Hörersicht kostenlos im Radio gespielt wird. Schlimmer noch: Es sind Fälle überliefert, da zahlten Labels dafür, dass bestimmte Songs häufig gesendet wurden.

Nach einem in unserer Branche verbreiteten Gefühl erscheint das grundfalsch. Gehen denn nicht mit jedem gesendeten Song Käufer für das Album verloren? Und müssten nach dieser Logik die Radiosender die Labels und Künstler nicht teuer für diesen Verlust bezahlen? Die Musikleute müssen verrückt sein! Denn sie machen das genaue Gegenteil: Sie geben dem Fernsehen Geld dafür, dass ein Song als offizieller Song eines Fußballturniers genutzt wird und vor jedem Spiel vor einem Millionenpublikum ausgestrahlt wird. Vielleicht sollten wir eine Branchendelegation von uns zu den Musikleuten schicken und ihnen das mit der Kannibalisierung mal ganz genau erklären, was meinen Sie?

... und die vom Film

Vielleicht sind die Filmleute vernünftiger. Die sind ja schließlich unsere nächsten Verwandten, kreieren Geschichten oder nutzen gerne auch unsere Stoffe. Was wir sehen ist verwunderlich: Da werden Filme im frei empfangbaren Fernsehen gezeigt, mit oder ohne Werbung, je nach Sender. Es mögen nicht die allerneusten sein, aber es ist auch nicht die ganz hoffnungslose Backlist. Wir können an jedem Abend Filme der großen Regisseurinnen und Regisseure sehen, mit Stars in den Hauptrollen. Selbst vor Oscar-Gewinnern wird kein Halt gemacht. Ja, geht denn dann noch überhaupt jemand ins Kino? Oder ist so blöd, sich eine DVD zu kaufen?

Gute Frage. Hier empfehle ich Ihnen ein kleines Experiment: Schauen Sie mal, welcher hochkarätige Film in den kommenden Tagen um 20:15 Uhr im Fernsehen kommt. Jetzt gehen Sie auf www.amazon.de und suchen die DVD des Films heraus. Notieren Sie sich bitte den „Amazon-Bestseller-Rang“ (sollten Sie Amazon nicht mögen, dann bitten Sie den Nachbarn, von dem Sie immer die Pakete annehmen, um diesen Gefallen!). Warten Sie nun die Ausstrahlung des Films ab. Dann wiederholen Sie bitte am Folgetag Ihren Besuch bei Amazon und vergleichen Sie den aktuellen Bestseller-Rang mit dem zuvor notierten: Der Film hat einen Sprung nach vorne gemacht. Ist das nicht verrückt? Aber wie kommt denn das? Die Leute haben den Film doch jetzt gesehen, wollen die ihn jetzt noch mal sehen und aufbewahren? Vermutlich ist in etwa das Folgende passiert: Ein paar Hunderttausend oder mehr haben den Film gesehen und gehen am nächsten Tag zur Arbeit oder zur Uni oder wo auch immer hin. Dort unterhalten sie sich mit Anderen über den Film. Es sind aber Kolleginnen oder Kollegen dabei, die den Film am Vortag nicht gesehen haben und jetzt neugierig geworden sind. Und so stecken die paar Hunderttausend wieder ein paar Hundert oder ein paar Tausend an, diesen Film zu erwerben, der zuvor etwas in Vergessenheit geraten in den Lagern schlummerte. Es passiert aber noch etwas anderes: Filme an sich sind im Gespräch. Sie sind allseits präsent, auch bei Kino-Muffeln. Man kennt die wichtigsten Akteure, ohne hierfür allzu viel Engagement aufbringen zu müssen. Und auf diesem Nährboden entsteht Nachfrage nach dem Neuem, dem so noch nie Dagewesenen. So entsteht Neugier auf Filme, die es zunächst nur im Kino gibt und dann nur auf DVD oder auf Bezahlkanälen, bevor sie eines Tages dann ins normale Fernsehen kommen.


Alles Papperlapapp?

Hier ist es offenbar allerhöchste Zeit, die Kolleginnen und Kollegen mal über Kannibalisierung aufzuklären. Und vielleicht sind sie auch empfänglich dafür, sich einmal zu überlegen, wie ihre Erzeugnisse durch diese Vertriebsformen entwertet werden. Hat nicht ein Heer an qualifizierten Mitwirkenden (Drehbuch, Ausstattung, Maske, Pizza-Service) an einem jeden Film mitgearbeitet? Es mag sein, dass das wenig ist gemessen daran, was in unseren Lektoraten geleistet wird. Doch es ist doch etwas wert und wird hier einfach so verschleudert.

Wahrscheinlich ist bei Film und Musik aber auch Hopfen und Malz verloren, denn längst haben sich dort Flatrate-Modelle wie Netflix und Spotify breitgemacht. Die Leute schauen jetzt dem Vernehmen nach mehr Serien und weniger Filme als zuvor, und bei der Musik hat „das Album“ (ein bei Jugendlichen vermutlich unbekannter Begriff) immer mehr an Relevanz verloren. Hier hat sich also, um es in unserem Branchenduktus zu sagen, eine „Häppchenkultur“ breitgemacht. Und die Musik- und Filmwirtschaft wirbt sogar noch auf Plakatwänden dafür.

Kannibalisierung innerhalb der Medien

Doch jetzt mal im Ernst. In diesem Umfeld findet eine echte Kannibalisierung statt. Aber nicht innerhalb der jeweiligen Gattungen Film und Musik, sondern innerhalb der Medien insgesamt. Diese neuen Angebote haben großen Erfolg. Ungeachtet der dahinter stehenden Geschäfts- und Erlösmodelle tun sie vor allem eines: Sie nehmen die Zeit der Menschen in Anspruch. Auch Zeit, in der vorher Bücher gelesen wurden. Vielleicht ist es nicht die Zeit von denen, die gehobene Belletristik lesen, denn diese wollen und werden weiter lesen. Vielleicht ist es aber die Zeit, in der vorher Eventbücher, Liebesromane oder Thriller-Massenware gelesen wurden. Von Menschen, die gelegentlich etwas lesen, und dann wieder nicht, die keine tief verankerte Bindung zu unserem Medium und unserer Branche haben, sondern sich einfach nur nach einem anstrengenden Arbeitstag unterhalten lassen wollen. Egal wovon. Idealerweise von etwas, was einfach zu haben ist. Bequem verfügbar. Nichts, wofür man noch extra irgendwohin fahren muss. Nichts, was zu einem Preis oberhalb einer Filmflatrate heruntergeladen werden muss. Das können wir falsch und traurig finden, aber so sind manche Leute eben, die nicht literarisch sozialisiert sind.

Wir finden diese Leute genau so doof, wie die Reisekaufleute uns finden, wenn wir nicht mehr in ihre Reisebüros gehen und uns fachkundig beraten lassen, um einen Flug zu buchen.

Was würde passieren, wenn...

Und dann sitzen wir an Bord einer solchen Maschine, schnell gebucht bei einem dieser Flugportale, bei dem Flüge viel billiger sind als früher, holen unser Hardcover hervor und lesen. Unser Sitznachbar ist erst ganz verzweifelt, nachdem er sein Smartphone ausschalten musste. Doch dann entdeckt er das „Onboard Entertainment“. Er findet dort Filme und Musik, Presse und Spiele. Sollte er dort ein Buch oder Hörbuch entdecken, was würde wohl passieren? Es könnte ihn nicht interessieren, na gut. Oder vielleicht haben wir ihn unterschätzt. Tatsächlich, er findet ein Hörbuch, das ihn interessiert. Lernt er gerade gar eine neue Autorin kennen? Schade, dass er es bis zu seinem Ziel nicht schafft, das Hörbuch zu Ende zu hören. Aber vielleicht ist da ja am Zielflughafen eine Buchhandlung. Das wäre ja sehr schön, so könnte er weiter lesen...

Und vielleicht gibt es dort, wo er jetzt hingereist ist, gar keine Kannibalen. Und wenn, dann vielleicht nur nette. Er wird den Urlaub überleben. Und auf dem Rückflug liegt ein Taschenbuch auf seinem Schoß. An Bord liest er es aus. Und aus Langeweile schaut er dann noch mal in das Angebot des „Onboard Entertainments“...


Warum dieser Einwurf?

Unsere Branche hat in den letzten Jahren Käufer und Leser verloren. Sie konkurriert mit neuen preiswerten und bequemen Angeboten anderer Branchen um die Zeit, die Aufmerksamkeit und das Geld des Publikums. „Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“, war einmal Bertolt Brechts Vorschlag, als die Bevölkerung gegen die Politik auf die Barrikaden ging. Teile unserer möglichen Leserinnen und Leser gehen nicht auf die Barrikaden, viel zu unbequem heute. Sie verabschieden sich still und leise, sie merken es mitunter nicht einmal selbst. Wir müssen uns überlegen, ob wir das hinnehmen, uns ein neues Volk suchen oder dem vorhandenen neue Angebote machen und es auf neue, zusätzliche Wege erreichen wollen. Können wir nicht selbstbewusst und stolz auf unsere Arbeitsergebnisse sein? Hätten sie es nicht verdient, in der Öffentlichkeit eine größere Wahrnehmung zu genießen, Trends zu setzen, im Gespräch zu sein, zu inspirieren oder einfach nur auf anregende Weise zu unterhalten? Die These der per saldo schädlichen Kannibalisierung erscheint mir weiterhin unbewiesen, doch der Gedanke bremst den Mut, sich der Welt und den Mitbewerbern der Nachbarbranchen zu stellen. Wir müssen die Herausforderungen annehmen, ohne die Angst, das Bestehende dabei aufs Spiel zu setzen.