"Wer handelt ist frei“ (Hannah Arendt)
Im Oktober 1965, fast auf den Tag genau vor sechzig Jahren, hat Helmut Richter im Kontext der Studentenrevolte aus dem Bundesvorstand des SDS (Sozialistischer Studentenbund Deutschlands) heraus den Buchverlag NEUE KRITIK (Frankfurt/Main) mitbegründet. Als erstes Buch wurde der Reprint von Rosa Luxemburgs "Die Akkumulation des Kapitals" aufgelegt. Das Verlagskollektiv musste aus den Erfahrungen mit den Funktionsweisen des Buchhandels lernen, dass eine eigene Auslieferung und eine angeschlossene Buchhandlung sinnvoll sein könnte.
Die Verlagsgründung – Anfang einer Erfolgsgeschichte mit folgenreichen Auswirkungen auf die Politik und Kultur der Bundesrepublik – führte in den folgenden Jahren zur Entwicklung des "Verbands des Linken Buchhandels" (VLB), des freiwilligen Zusammenschlusses von linken und alternativen Verlagen, Vertreter:innen, Druckereien, Vertrieben, Auslieferungen und Buchhandlungen. Helmut Richter sagte zur SoVA, der Sozialistischen Verlagsauslieferung: "Wir gründeten uns mit den Verlagen: Neue Kritik, Trikont, edition Voltaire und Weißmann – woraus später Kunstmann wurde. KD Wolff war zuerst beim legendären März Verlag und bekam bei seinem Ausstieg eine Abfindung, mit der er in die Neue Kritik einsteigen wollte. Seine Bedingung: Wir dürfen ihm nicht in die Bücher reinreden, die er machen wollte. Das wollten wir nicht, wir wollten kollektiv entscheiden, und er gründete 1970 seinen eigenen Verlag Roter Stern."
Diese Grundsatzentscheidung für ein Kollektiv war auch grundlegend bei der Gründung der Karl-Marx-Buchhandlung: Die Betriebe sollten kollektiv, bei gleichem Lohn und selbstständig über die Angelegenheiten des Betriebs entscheiden. Aber sie waren kein Privateigentum. So wurden die Frankfurter linken Buchhandelskollektive zu einem Nucleus und Knotenpunkt, der für die Diskussion um und im VLB große Wichtigkeit bekam, wobei Helmut Richter aufgrund seiner Erfahrung und seines Engagements eine außergewöhnliche Rolle spielte.
Beispielhaft für die Weitergabe seiner Erfahrungen aus den 70er/Anfang 80er Jahren berichtet Barbara Determann (ehemals autorenbuchhandlung marx & co): "1985 fragte mich Helmut Richter, ob ich zusammen mit zwei anderen Buchhändlerinnen in der insolventen Karl-Marx-Buchhandlung arbeiten würde, um sie als Bewegungsbuchhandlung zu erhalten. Zu viert machten wir uns an die Arbeit – drei zugezogene Frankfurterinnen, die nicht zur Spontiszene gehörten, und ein Mitarbeiter des alten Kollektivs. Helmut Richter beriet uns auf der Ebene der Ökonomie, wir lernten, Planbilanzen herzustellen und organisierten den Laden neu zu einer funktionierenden Buchhandlung mit studentenbewegter Geschichte. Helmuts politische Vorstellung, dass die Betriebe der Bewegung gehörten, so seine Formulierung, dass es keinen Privateigentümer geben dürfte, der sich den Betrieb aneignen könnte, war grundlegend für die Gesellschaftsform der Buchhandlung."
Bei den vierteljährlichen Zusammenkünften aller VLB-Projekte bis Anfang der 80er Jahre war Helmut Richter immer wieder Impulsgeber und hartnäckiger Streiter für die gemeinsamen Interessen. Die SoVA als Auslieferung und Kommunikationsknoten vieler linker Verlage wurde so zunehmend zu einer Förder- und Kontrollinstanz für den linken Buchhandel landesweit. Dank Helmut Richters dauerhaftem und zuverlässigen Einsatz wurde die SoVa zum "Herzstück des linken Buchhandels“ (Börsenblatt).
Helmut Richter (2018): "Eigentlich war es Blödsinn, eine Auslieferung zu planen, also, das war nicht mein Lebensplan. Wir haben ja nur angefangen, weil die anderen pleite waren. Ich habe mir dann gesagt: Wenn du schon so einen Apparat – Auslieferung, Umgang mit Buchhandlungen, Vertretern und Verlagen – bedienen musst, musst du ihn auch politisch wenden. Deshalb habe ich mich damals sehr um den VLB gekümmert – und das hat viel Spaß gemacht. Und das hätte ich vermutlich nicht gemacht, wenn wir die SoVA nicht gegründet hätten."
Oft erfuhr die SoVA als erste, wenn es z.B. zu Konkurrenzgründungen von Buchhandlungen am gleichen Ort kommen sollte, was dem Selbstverständnis des solidarisch organisierten VLBs nicht entsprach, oder zu Raubdrucken von Büchern aus linken Verlagen. Die SoVA unterstützte ökonomisch gefährdete Mitgliedsprojekte mit Beratungen, Provisionen und Krediten. Sie war beteiligt an der Organisation des Widerstands gegen vor allem staatliche Zensurmaßnahmen und in der Interessensvertretung im Börsenverein des Deutschen Buchhandels.
Durch den VLB kam es neben dem "Marsch durch die Institutionen" zur Gründung vielfältiger neuer Institutionen, die eine offene gesellschaftliche Partizipation unterschiedlicher Minderheitenpositionen ermöglichen. Die Entstehung und Entwicklung der Frauen-, Schwulen- und Lesben-, der Umwelt-, der Menschenrechts- und Solidaritätsbewegungen (oft mit eigenen Verlagen und Buchhandlungen) lässt sich an der Geschichte des linken Buchhandels ebenso nachvollziehen wie die Veränderung der Wissenschaftskultur, der Ausbildung, der Öffentlichkeit sowie die der politischen Kultur oder des Alltagslebens dieses Landes.
So leistete der linke Buchhandel einen nicht unbedeutenden Beitrag zur Demokratisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft von einer formierten zu einer offenen Gesellschaft, auch wenn diese Langzeitwirkung selbst bei den GRÜNEN, die doch aus diesen Zusammenhängen entstanden sind, heute kaum mehr präsent ist. Und dennoch: "Als bleibenden Erfolg der VLB-Aktivitäten wertet es Richter, dass in Deutschland keine Zensur stattfindet." (Börsenblatt)
Heide Platen schrieb in der TAZ zu Helmut Richters 50. Geburtstag am 29.8.1991: "Es gibt viele Anekdoten über Helmut Richter. Sie handeln meist davon, dass er anderen geholfen, sich selbst aber zurückgenommen hat. Seine Bescheidenheit ist Legende. … So kennt ihn die 'Szene' weit über Frankfurt hinaus: Bescheiden, unauffällig und leise."
Helmut Richter ist am 6. Oktober 2025 in Frankfurt am Main gestorben.
Karl Piberhofer
Karl Piberhofer, Buchhändler, Redakteur LISTEN - Zeitschrift für Leserinnen und Leser, Wiss. Mitarbeiter im Europäischen Parlament und im Deutschen Bundestag, seit 2004 Filmproduzent, Filmautor und Regisseur, zahlreiche Kurzdokumentationen. Biografischer Dokumentarfilm (92 min.) ¿DADA? - HUGO BALL - DER BUCHSTABENKÖNIG (2018)