Interview mit Prix Voltaire-Preisträger Dmitri Strozew

"Natürlich sind wir alle stark traumatisiert"

16. Juni 2025
Redaktion Börsenblatt

Die im Exil lebenden belarussischen Verleger:innen Nadia Kandrusevich und Dmitri Strozew haben gemeinsam den Prix Voltaire 2025 der International Publishers Association (IPA) erhalten. Im Rahmen der Preisverleihung in Lillehammer hat Jessica Sänger, Direktorin Europäische und internationale Angelegenheiten im Börsenverein, ein Interview mit Dmitri Strozew geführt.

Porträt des Verlegers Dmitri Strozew vor einer Backsteinwand

Dmitri Strozew

Die Preisverleihung fand am 2. Juni im Rahmen des World Expression Forum im norwegischen Lillehammer statt. Die beiden prämierten Verleger:innen Nadia Kandrusevich (Koska) and Dmitri Strozew (Hochroth Minsk), die in Polen bzw. Deutschland im Exil leben, wurden für ihr Engagement im Verlagswesen ausgezeichnet, obwohl sie bedroht und schikaniert wurden und schließlich aus Belarus fliehen mussten, heißt es in einer Mitteilung der IPA.

Was wollen Sie mit Ihrer Tätigkeit in der Welt verändern?

Dmitri Strozew: Meinen Sie damit meinen Beruf oder zielt die Frage auf meine Berufung? Als Dichter oder als Verleger, oder beide in einer Person? Ich würde es so ausdrücken: Ich habe mich über dreißig Jahre als Verleger betätigt, aber wie ich in meiner Rede sagte, habe ich gegenwärtig eine ganz besondere Aufgabe: Zeugnis abzulegen für das neue Belarus – für jenes Belarus, das im Jahr 2020 entstanden ist. Zeugnis abzulegen heißt, über dieses neue Belarus zu informieren. Es ist keine so ambitionierte Aufgabe wie "die Welt zu verändern", aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das, was 2020 in Belarus geschehen ist, ein Ereignis von weltweiter Bedeutung ist, das man wahrnehmen und begreifen muss.

Woher nehmen Sie morgens die Motivation, aufzustehen und Ihre Arbeit zu tun?

Dmitri Strozew: Das ist eine sehr gute und für einen Belarussen sehr schwierige Frage. Ich bin einer von einer Million Belarussen, die ihr Land nach 2020 verlassen haben. Natürlich sind wir alle stark traumatisiert, und es kostet uns große Mühe zu glauben, dass wir eine Zukunft haben. Deshalb wache ich morgens nicht voller Tatendrang auf, ich fange an, mich erst einmal zu sammeln, und überlege: Was kann ich heute Sinnvolles tun? Und ich bin ein glücklicher Mensch, denn ich kann jeden Tag etwas für andere tun – ich bin ein Verleger. Belarussische Dichter, die durch diese schwierigen Zeiten gehen, die viele wichtige, bedeutsame Texte geschrieben haben, sind der Möglichkeit beraubt, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Es gibt keinen Ort, an dem sich diese Stimmen vereinen könnten. Dass ich meinen eigenen kleinen Verlag gegründet habe, ist schon eine große Unterstützung für diese Autoren. Verleger wissen, dass das Publizieren von Büchern immer ein großes vielstimmiges Gespräch ist, ein Dialog. Für mich ist das die Gelegenheit, mit Menschen zu sprechen, die gewöhnlich das Gespräch scheuen, weil sie Schweres erlebt haben, worüber zu sprechen nicht einfach ist. Aber ich bin ihr Verleger, ich muss mit ihnen reden. Wir fangen an, gemeinsam die Texte und die Komposition der Bücher zu erörtern, mögliche Illustratoren vorzuschlagen, und all das gibt mir natürlich die Möglichkeit, meine Existenz mit Sinn zu erfüllen.

Was bedeutet für Sie dieser Preis, den Sie zusammen mit Nadia Kandrusevich erhalten haben?

Dmitri Strozew: Ich denke, da gibt es mehrere Aspekte, Blickwinkel oder Ansichten. Erstens geht es um meine und Nadias individuelle Lage. Wir sind aus unserer Heimaterde gerissen worden, haben keinen Boden mehr unter den Füßen. Und in gewisser Weise offeriert uns diese Geste (der Preisverleihung) ein neues Land. Uns persönlich.

Die belarussischen Verleger, über die ich heute in meiner Rede gesprochen habe, bilden eine community außerhalb von Belarus, während ihr Auditorium im Land geblieben ist. Und der verliehene Preis steht symbolisch dafür, dass wir wahrgenommen werden, dass unsere community in eine größere Familie aufgenommen wird. Das heißt, aus einer community von Verlierern, von Gescheiterten, von Emigranten wird eine Gemeinschaft mit ebenbürtigem Status.

Mir steht erst noch bevor, Erfahrungen zu sammeln, was für einen praktischen Nutzen das für mich hat. Es ist eine Sache, als Emigrant aus einem Land zu kommen, in dem eine Diktatur herrscht, und es ist etwas anderes, ein in Europa und der Welt anerkannter Verleger zu sein. Ich kann in meinen Wortmeldungen, in meinem Portfolio schreiben, dass ich diesen Preis bekommen habe, und vielleicht wird man mir dann mit größerem Interesse begegnen, genauer zuhören. Aber das muss ich noch prüfen.

Aus dem Russischen übersetzt von Andreas Weihe

Veranstaltungstipp:

"Leben und Schreiben im (Berliner) Exil – Belarussische Spurensuchen zw. Gegenwart und Vergangenheit", lautet eine Veranstaltung mit sechs Autor:innen aus Belarus, die aufgrund der Repressionen durch das belarussische autoritäre Regime im Berliner Exil leben. Lesung und Gespräch mit Alhierd Bacharevič, Sveta Ben, Olga Bubich, Julia Cimafiejeva, Dmitri Strozew und Zmicier Vishniou.

  • Moderation: Miriam Finkelstein und Nina Weller
  • Dolmetscherin: Tatsiana Kupreichyk

Wie Tausende andere haben die sechs Autor:innen seit der brutalen Niederschlagung der Massenproteste gegen das autoritäre Regime Lukaschenka 2020 Belarus verlassen. Eine Rückkehr kommt angesichts der Risikos verhaftet zu werden aktuell nicht infrage. So ist Berlin für sie zum neuen Lebensmittelpunkt geworden – wenn auch mit prekärem Aufenthaltsstatus, fassen die Veranstalter in ihrer Einladung zusammen.

  • Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung nicht nötig.

Zum Preis:

Der IPA Prix Voltaire ist ein mit 10.000 Schweizer Franken dotierter Preis, der jährlich an Verlegerinnen und Verleger verliehen wird, die sich für die Förderung und Verteidigung der Publikationsfreiheit einsetzen, so die IPA. Er ist nach dem französischen Philosophen und Schriftsteller François-Marie Arouet (Pseudonym Voltaire) benannt, der viele Jahre in Genf und Umgebung lebte und sich für Toleranz und freie Meinungsäußerung einsetzte, bevor diese Begriffe allgemein verwendet wurden.

Der IPA Prix Voltaire wird durch die großzügigen Beiträge der folgenden Sponsoren ermöglicht:

  • Albert Bonniers Förlag (Schweden)
  • Holtzbrinck (Deutschland)
  • Penguin Random House
  • C. H. Beck (Deutschland)