Friedenspreis für Karl Schlögel

"Die Angst ist Putins wichtigste Waffe"

18. Oktober 2025
Sabine Cronau

Während Gaza auf Frieden hoffen kann, geht der Krieg in der Ukraine weiter - jeden Tag und jede Nacht: Bei seiner Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche machte Friedenspreisträger Karl Schlögel deutlich, dass Putin die Ukraine von der Landkarte Europas tilgen will. Und wir von den Ukrainer:innen nicht nur viel über Drohnentechnik, sondern auch über Mut und Widerständigkeit lernen können.

Friedenspreisträger Karl Schlögel und seine Laudatorin Katja Petrowskaja

Der Krieg in der Nachbarschaft

Den Platz am Podium der Paulskirche kannte er schon als zweifacher Laudator - am Buchmesse-Sonntag ist der deutsche Historiker und Osteuropa-Kenner Karl Schlögel nun selbst mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Zu den rund 700 geladenen Gästen in der Frankfurter Paulskirche gehörten unter anderem auch Kulturstaatsminister Wolfram Weimer, Bischof Georg Bätzing sowie Bundestagsvizepräsident Omid Nouripour.

"Von der Ukraine lernen. Verhaltenslehren des Widerstands": So überschrieb Karl Schlögel seine Dankesrede, die immer wieder von Applaus begleitet wurde - und deutlich machte, dass die Weltunordnung der Gegenwart auch die Vorstellungs- und Urteilskraft eines Historikers übersteigen kann:

"Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Russland noch einmal zurückfallen würde in Zeiten, die in Vielem den Praktiken des Stalinismus gleichen, ich konnte mir nicht ein Amerika vorstellen, in dem sich einmal Angst vor einem autoritären Regime würde ausbreiten können. Ganz fremd war mir der Gedanke, dass auch in der Bundesrepublik etwas ins Rutschen kommen könnte. Vor allem aber: dass der Krieg (…) etwas Reales in der nächsten Nachbarschaft werden könnte.“

Putins Russland ist entschlossen, die unabhängige und freie Ukraine von der Landkarte Europas zu tilgen. Kein Wort kommt an die Bilder der Zerstörung heran.

Karl Schlögel in seiner Dankesrede

Ein neues Wort: Der Urbizid

In Gaza schweigen endlich die Waffen - auch für Karl Schlögel ein "Wunder", das Hoffnung macht. Doch der Krieg in der Ukraine geht weiter. Daran erinnerte Karl Schlögel mit eindringlichen Worten: "Es geschieht das Ungeheuerlichste: Unter unseren Augen werden ukrainische Städte Tag für Tag, Nacht für Nacht von russischen Raketen beschossen, und Europa scheint nicht in der Lage oder nicht willens, sie zu schützen." 

Putins Russland, stellte Schlögel unmissverständlich klar, sei entschlossen, die unabhängige und freie Ukraine von der Landkarte Europas zu tilgen. Wenn man das Land schon nicht erobern könne, dann müsse es wenigstens zerstört, unlebbar gemacht werden. Städte würden zum Gelände, in dem man mit Drohnen auf Menschenjagd gehe. Ein neuer Begriff mache die Runde, so der Friedenspreisträger: Der Urbizid, die Auslöschung ganzer Stadträume.

"Wüstungen des 21. Jahrhunderts, gesprengte Staudämme und Brücken, geflutete Landschaft, Schwarzerde-Felder verbrannt und verseucht auf Generationen, ethnische Säuberung und Entführung von Zehntausenden von Kindern, die besetzten Gebiete als großes Lager unter der Regie von Warlords und Kriminellen."

Die Bürger und Bürgerinnen der Ukraine lehren uns, dass das, was geschieht, nicht Ukraine-Konflikt heißt, sondern Krieg.

Karl Schlögel in seiner Dankesrede

Helden in einer postheroischen Welt

Das Unheil, das Putins Russland über die Ukraine gebracht habe, hat für Schlögel viele Namen: Imperialismus, Revisionismus, Mafia-Staat, Faschismus, Raschismus. Dennoch habe es in Deutschland erstaunlich lange gedauert, all das zu begreifen:

"Wieviel einfacher und bequemer war es doch, der Nato oder gleich dem kollektiven Westen die Schuld zu geben: Bis auf den heutigen Tag ist die Suche nach einem tieferen Sinn in der Putinschen Politik nicht zur Ruhe gekommen. Genannt werden: Demütigung der einstigen Supermacht, Einkreisungsängste, Sicherheitsbedürfnis, Kampf um Anerkennung. Dem entspricht die Vorstellung, dass sich im argumentativen Diskurs mit ihm Missverständnisse ausräumen und Deals aushandeln lassen. Die Vorstellung, dass Putin sich an Argumente oder gar Verfahrensregeln halten würde, hat er jedoch von Anfang an widerlegt." 

Denn Putin, ergänzte Schlögel, habe den Tisch, an dem Verhandlungen und Gespräche nach bestimmten Spielregeln stattfinden sollten, einfach umgestoßen und mit Bravour die Regelverletzung zum System erklärt:

"Er war und ist der Meister der Eskalationsdominanz, der wohl kalkulierten Verschärfung von Konflikten, den kalkulierten Bruch des Nukleartabus eingeschlossen. Die Angst ist seine wichtigste Waffe, und in der Bewirtschaftung der Angst besteht sein wahres Talent."

Dass der Krieg nicht nur mit Waffen geführt wird, zeigt sich an Putins Propaganda-Maschinerie. Putin führe auch einen Krieg um Köpfe, mit Stimmungen, mit Ängsten, mit Ressentiments, mit Nostalgien - oder "als verlockendes Angebot, zu business as usual zurückzukehren."

Die Ukrainer:innen dagegen würden wissen, dass sich ein zu allem entschlossener Aggressor nicht mit Worten aufhalten lasse: "Sie sind Realisten, die sich keine Illusionen leisten können. Weil sie nicht Opfer sein wollen, wehren sie sich. Sie sind auf alles gefasst (...) . Sie sind in einer postheroisch gewordenen Welt Helden, ohne davon Aufhebens zu machen."

Und von diesen modernen Helden, das machte Karl Schlögel sehr deutlich, kann das restliche Europa einiges lernen: 

"Die Bürger und Bürgerinnen der Ukraine lehren uns, dass das, was geschieht, nicht Ukraine-Konflikt heißt, sondern Krieg. Sie helfen uns zu verstehen, mit wem wir es zu tun haben: mit einem Regime, das die Ukraine als unabhängigen Staat vernichten will und das Europa hasst. Sie zeigen uns, dass dem Aggressor entgegenzukommen nur dessen Appetit auf noch mehr steigert und dass Appeasement nicht zum Frieden führt, sondern den Weg in den Krieg ebnet."

Uns Europäern bleibt, so unwahrscheinlich es klingen mag: Von der Ukraine lernen, heißt furchtlos und tapfer sein, vielleicht auch siegen lernen.

Karl Schlögel in seiner Dankesrede

Was uns die Ukrainer:innen lehren

Die Ukrainer.innen sind für Schlögel der Spiegel, "in den wir blicken und der uns daran erinnert, wofür Europa einmal gestanden hat und weshalb es sich lohnt, es zu verteidigen. (…) Sie kennen sich aus mit Verhaltenslehren des Widerstands und bringen den Europäern bei, was auf sie zukommt, wenn sie nicht endlich sich auf den Ernstfall vorbereiten."

Aus der Paulskirche, "dem Ort der deutschen Einheits- und Freiheitsbewegung", schickte der Friedenspreisträger einen Gruß in den Krieg:

"Hinüber zu den Verteidigern einer freien Ukraine, zu den Männern und Frauen, die trotz alledem ihrer Arbeit nachgehen, die ihre Kinder trotz Drohnenschwärmen zum Unterricht bringen, zu den Einwohnern Kyjiws, die in der Metrostation ausharren, zu den Lokführern, die ihre Züge pünktlich von Iwano-Frankiwsk nach Charkiw steuern. Uns Europäern bleibt, so unwahrscheinlich es klingen mag: Von der Ukraine lernen, heißt furchtlos und tapfer sein, vielleicht auch siegen lernen."

Die Dankesrede lässt sich hier nachlesen.

Der Krieg wird immer unwirklicher, je länger er dauert.

Katja Petrowskaja in ihrer Laudatio

Der Krieg frisst Raum und Zeit

Die Laudatio hielt die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und Journalistin Katja Petrowskaja. Sie würdigte Karl Schlögel als Historiker, der sich seit vierzig Jahren bemühe, "über Staatsgrenzen hinwegzuschauen, festgefahrene Vorurteile aufzulösen, sich dem Unwissen entgegenzustellen". Das tue er durch Reisen, mit akribischen Archivarbeiten und durch direkte Begegnungen mit Menschen. Schlögel, so seine Laudatorin, habe die Fähigkeit zu beobachten und "die Welt mit allen Poren aufzusaugen." Petrowskaja machte aber ebenso deutlich:

"Ich würde heute lieber nicht über den Krieg sprechen, sondern über die Musikalität der Werke von Karl Schlögel, ihrer Komposition, denn seine großen Bücher sind aufgebaut wie Symphonien, mit einer sich fortbewegenden sogartigen Intonation. Ich hätte heute lieber über die Ursprünge seiner Prosa gesprochen, die so schön geschrieben ist. Aber der Krieg frisst Raum und Zeit."

Die Schriftstellerin erinnerte daran, dass sich die Ukraine dem vierten Winter des russischen Angriffskriegs nähere:

"Der Krieg wird immer unwirklicher, je länger er dauert. Karl Schlögel ringt um Wörter gegen die Fassungslosigkeit, gegen die Abstumpfung, er beruft sich auf das Leid und die Standhaftigkeit der ukrainischen Gesellschaft, die jeden Tag den Krieg durchlebt und um ihr Überleben kämpft.

Wir leben in einer Zeit der allgemeinen Verunsicherung und Zerrissenheit, in einer Zeit der wachsenden Neigung zum Denken in Gegensätzen. In dieser Zeit wurde Karl Schlögel für mich, und für viele andere Menschen, zu einer Stütze, zum Inbegriff von Standhaftigkeit, jenseits der ideologischen Fallen."

Unvergesslich ist der Schriftstellerin eine Talkshow mit Anne Will im Frühling 2022, in der sich Karl Schlögel bei den Deutschen dafür entschuldigt habe, dass er als Slawist, als Historiker und Fachmann, diesen Krieg nicht vorhergesehen hatte. Katja Petrowskaja:

"Auf eine solche Entschuldigung hatte man vergeblich von den Politikern, Sicherheitsexperten oder sonst wem gewartet, die uns mit ihrem `Wandel durch Handel` den ewigen Frieden versprochen hatten und die auch nach 2014 weiter mit dem Kriegsverbrecher verhandelten."

Die Laudatio lässt sich hier nachlesen. 

Karl Schlögel, der Russland wie kaum ein anderer kennt und für den Russland Heimat geworden ist, kann nicht mehr dorthin reisen, ohne seine Festnahme zu riskieren.

Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins, im Grußwort

Kaleidoskop der Geschichte

Mit einem poetischen Bild würdigte Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins, den Friedenspreisträger, der sich im Laufe seines Lebens vom Beobachter Osteuropas und Russlands zum ebenso weisen wie leisen Berater der Politik entwickelt habe, weil er die Welt im Osten verstehe: "Er ist ein Archäologe, der Raum und Zeit abschichtet. Und jede Scherbe, die er aufhebt, wird durch ihn zu einem funkelnden Kaleidoskop der Geschichte.“

Das Grußwort der Vorsteherin lässt sich hier nachlesen.

 

Frankfurts Oberbürgermeister Mike Josef machte in seinem Grußwort deutlich, dass Karl Schlögel mit den Mächtigen spreche - aber auch mit denen, die mit dem Alltag des Krieges leben müssten. Der Historiker sei dabei jederzeit dazu bereit, frühere Ansichten zu revidieren, zu korrigieren, neuen Verhältnissen anzupassen: Eigenschaften, die heute rar seien, obwohl sie mehr gebraucht würden denn je.

Die Stadt Frankfurt hat 2024 eine Städtepartnerschaft mit dem ukrainischen Lwiw geschlossen: "Diese Städtepartnerschaft ist kein Akt der Hilfe, sondern ein Akt der Haltung", stellte Mike Josef klar: "Die Menschen in Lwiw, in der Ukraine kämpfen für unsere Rechte - für das Recht, selbstbestimmt und in Freiheit zu leben."

Zum Grußwort des Oberbürgermeisters geht es hier.

 

Frankfurts Städtepartnerschaft mit Lwiw ist kein Akt der Hilfe, sondern ein Akt der Haltung.

Oberbürgermeister Mike Josef in seinem Grußwort

Über den Friedenspreis

Seit 1950 vergibt der Börsenverein zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zur Riege der Preisträger:innen gehören unter anderem Albert Schweitzer, Astrid Lindgren, Václav Havel, Jürgen Habermas, Susan Sontag, Navid Kermani, Margaret Atwood, Aleida und Jan Assmann, Serhij Zhadan, Salman Rushdie und im vergangenen Jahr Anne Applebaum. Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert.

Mehr über den Friedenspreis und die Preisträger:innen der vergangenen 75 Jahre finden Sie hier.