IG Belletristik und Sachbuch

Die Friedenspfeife rauchen - geht das noch?

26. Januar 2023
von Sabine van Endert

Die IG Belletristik und Sachbuch hat sich bei ihrer Jahrestagung in München über Sensitivity Reading und kulturelle Aneignung ausgetauscht - und gestritten. Außerdem gab es ein paar Appelle an die Verlage von Börsenvereins-Hauptgeschäftsführer Peter Kraus vom Cleff. 

Endlich wieder ein Treffen in "echt" - dann wird der Pausenschwatz bis zum Platz fortgeführt

Peter Kraus vom Cleff: "Endlich wieder IG BellSa hier"

Zuletzt traf sich die IG Belletristik und Sachbuch 2020 im Literaturhaus in München, 2021 war Pause, im vergangenen Jahr trafen sich die Verleger:innen in Berlin. "Endlich wieder IG BellSa hier" begrüßte Börsenvereinsgeschäftsführer Peter Kraus vom Cleff die etwa 150 Branchenvertreter:innen – und sprach wohl den meisten von ihnen aus dem Herzen.

"Vielfalt ist unsere DNA und unsere Zukunft", so Kraus vom Cleff. 70 Prozent der Börsenvereinsmitglieder würden einen Umsatz unter 600.000 Euro generieren, die Branche müsse gemeinsam darauf hinwirken, dass Vielfalt trotz der Ungleichgewichte erhalten bleibe.

Was macht der Börsenverein? Kraus vom Cleff nannte unter anderem die "Neustart-Kultur"-Projekte, den Buchhandlungs- und Verlagspreis, Ansätze der Digitalisierung beim Schulbuchgeschäft gemeinsam mit den Landesverbänden, Projekte und Gesprächsrunden zur Innenstadtbelebung zusammen mit dem Einzelhandelsverband HDE, die IGs zur Nachhaltigkeit und zur Meinungsfreiheit, Unterstützung beim geplanten "KulturPass" für 18-Jährige. Außerdem soll der digitale Wissens-Hub ausgebaut werden. Besonders hob er die notwendige Arbeit in Sachen Leseförderung hervor,  über die man sich angesichts von sechs Millionen funktionalen Analphabeten "über Silos und Schrebergärten hinweg" gemeinsam kümmern müsse.

Peter Kraus vom Cleff

Seien Sie sich Ihrer Verantwortung beim Pricing bewusst und sorgen Sie für auskömmliche und faire Konditionen, auch zur Sicherung der Preisbindung.

Peter Kraus vom Cleff

Pricing, faire Konditionen, Vielfalt im Programm

Im Sinne des Erhalts der Vielfalt appellierte Peter Kraus vom Cleff an die Verlage: "Seien Sie sich Ihrer Verantwortung beim Pricing bewusst und sorgen Sie für auskömmliche und faire Konditionen, auch zur Sicherung der Preisbindung". Außerdem warb der Börsenvereins-Hauptgeschäftsführer für Präsenz auf den Buchmessen in Frankfurt und Leipzig: "Buchmessen sind mehr als der eigene Auftritt, sie bringen die gesamte Branche ins Gespräch". Und nicht zuletzt wünschte er sich von den Verlagen Mut in der Programmgestaltung, denn "Vielfalt zeigt sich im Kleinen".

Marie Schmidt: "Sensitivity Reading stellt Autorschaft in Frage"

Den Impulsvortrag zum Top-Tagungsthema Sensitivity Reading lieferte Marie Schmidt, Literaturkritikerin und Literaturredakteurin der "Süddeutschen Zeitung". Das Angebot von freien Lektor:innen, Texte mit besonderen Sensibilitäten gegenzulesen, gehört für Schmidt zu einer ganzen Reihe von Themen, bei denen es um eine gesteigerte Aufmerksamkeit für soziale Unterschiede geht. Ihr Vater habe vor Jahrzehnten angesichts der wenigen im Parkhaus reservierten Parkplätze für Menschen mit Behinderung und Frauen gefragt, wo man als "alter, weißer, heterosexueller lustiger Mann hier eigentlich noch parken" könne, um sich dann einen der vielen nicht reservierten Parkplätze auszusuchen. "Die zehn, zwölf ausgezeichneten Parkplätze machen für Männer das ganze Parkhaus unbenutzbar", so Schmidt, über das eigentliche Problem, nämlich dass Frauen sich im Parkhaus unwohl fühlten und ihnen deshalb Plätze am Ausgang zugestanden wurden, wurde nicht gesprochen.

"Sensitivity Reader prüfen Texte auf verletzende oder diskriminierende Ausdrucksweise. Sie wollen nichts verbieten, sondern bieten ein Gesprächsangebot an." Allerdings werde durch Sensitivity Reading Autorschaft in Frage gestellt, Autor:innen seien nicht mehr Herr im Haus der eigenen Sprache, sie könnten unbewusst Fehler gemacht haben. Sich das einzugestehen, sei für Autor:innen sicher nicht einfach, doch "subtile Unterschiede müssen zur Kenntnis genommen werden und dafür könnte Hilfe nötig sein, wenn man wie wir in einem vorwiegend weißen, akademisch geprägten Betrieb arbeiten". 

Marie Schmidt

Sensitivity Reader prüfen Texte auf verletzende oder diskriminierende Ausdrucksweise. Sie wollen nichts verbieten, sondern bieten ein Gesprächsangebot an.

Marie Schmidt

Praxistransfer

Im Gespräch mit den Sensitivity Readerinnen Victoria Linnea und Jade S. Kye loteten Susanne Krones, Programmleiterin Deutschsprachige Literatur bei Penguin, Ulrike von Stenglin, Verlagsleiterin hanserblau, und Marie Schmidt, moderiert von Torsten Casimir von der Frankfurter Buchmesse, aus, welche praktischen Erfahrungen die Branche bisher mit dem sensiblen Gegenchecken von Manuskripten gemacht hat.

Bei Penguin, berichtet Krones, gibt es eine Austauschgruppe für das Thema mit Vertretern der 45 Penguin-Random-House Verlage aus allen Bereichen. Während für sie als Programmleiterin Deutschsprachige Literatur Sensitivity Reading nur für einen Bruchteil der Bücher thematisiert werde, seien die Erfahrungen in den Bereichen Sachbuch / Ratgeber und Kinderbuch / Unterhaltung / Fantasy durchaus ausgeprägter. Ulrike von Stenglin hält die Auseinandersetzung mit den neuen Sensibiltäten für unverzichtbar: "Wir haben das Glück, bei Hanser etwas diverser aufgestellt zu sein", sagt sie. 

Kye und Linnea bieten als Lektorinnen mit besonderen Kenntnissen, wie sich verletzende Sprache vermeiden lässt, stilistische und inhaltliche Referate sowie Stoffentwicklung an. Auf der Seite Sensitivity Reading  bieten Lektorinnen ihre Dienste an zu Themen wie Behinderung, Gewalterfahrung, Religion, Fatshaming und vielen mehr. Ist das übertrieben, zu partikular? Reicht nicht auch Einfühlungsvermögen und Recherche, oder muss man die Lebenswelt, über die gesprochen wird, teilen? Am Beispiel von Dialekten, zum Beispiel den verschiedenen Spielarten von Bairisch, erklären die Spezialisten für Sensitivity Reading den Gewinn ihrer Arbeit. Die Branche hätte ein Binnendiversitätsproblem und bräuchte deshalb Unterstützung. 

Die Versachlichung des Themas gelang in der anschließenden Diskussion nur bedingt. Die Lektorate der Verlage bräuchten keine Unterstützung bei sensiblen Themen, Sensitivity Reading und Triggerwarnungen seien nur Werbemaßnahmen der Verlage, korrekte Literatur brauche keiner, so die Wortmeldungen. Ob Spezialistinnen oder Publikum – die Abwehrmechanismen funktionierten auf beiden Seiten.

Jens Balzer: "Was richtig ist, findet man im Gespräch heraus"

"Dürfen wir noch die Friedenspfeife rauchen?", hatte Jens Balzer (Autor und Journalist, "Ethik der Appropriation", Matthes & Seitz) seinen Vortrag überschrieben, der die zweite Diskussion zum Thema neue Sensibilitäten einleitete. Er erinnerte an die vieldiskutierten Kulturmeldungen über Konzertabbrüche wegen Dreadlocks oder die Winnetou-Debatte aus dem vergangenen Sommer. Unangemessene kulturelle Aneignung riefen die einen, ein Fall von Cancel Culture durch "woke" Communities die anderen. "Wir erleben eine Übertragung, in Deutschland ist die Aneignungsdebatte wiederum angeeignet", erklärt Balzer. Er lieferte einige Definitionen aus dem Spektrum zwischen "kultureller Reinheit" und "Aneignungsfreude" und plädierte dafür ein aufgeklärtes Verhältnis zu kultureller Aneignung zu finden. "Aneignen, aber richtig", so Balzer, "was richtig ist, findet man am besten im Dialog heraus".

In der anschließenden Gesprächsrunde mit Jens Balzer, Tobias Graser (Konzepter und Texter Turn Storytelling) und Frank Menden, Buchhändler stories!, Hamburg, und Mitglied der Jury Deutscher Buchpreis, wurde das Problembewusstsein geschärft, eine Lösung für die Vermeidung von Shitstorms gab es nicht. Im Fall Winnetou habe Ravensburger richtig reagiert, meinte der Experte Tobias Graser, der Verlag habe ein Problem erkannt, darauf reagiert und das mitgeteilt. Dass die "BILD"-Zeitung den Originalpost als Sprungbrett für eine Debatte und Verkäufe genutzt habe, hätte man nicht antizipieren können.  

Frank Menden berichtete über die Wochen nach der Verleihung des Deutschen Buchpreises an Kim de l’Horizon: Erst gab es Lob, dann einen Shitstorm, der ihn auch persönlich erreicht hat, bis hin zu der Drohung: "ich weiß, wo du wohnst" und aggressiven, direkt auf ihn als Person abzielenden Kommentaren in der Buchhandlung. Das war beklemmend zu hören, doch einfache Lösungen hatte das Podium nicht parat. 

Fazit dieser Runde: Das Problem bleibt, Shitstorms lassen sich nicht verhindern. Mehr Resilienz angesichts von Shitstürmen und -stürmchen aufbauen vielleicht? 

Zum Schluss noch einmal an den Anfang: Die Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs sprach in ihrem Grußwort über das gerade extrem virulente Thema Resilienz – und hat dafür Menschen gefragt, die Krisen überstanden haben. Ihren Vortrag lesen Sie hier!