Die Sonntagsfrage

Friedenspreis in Kriegszeiten: Jetzt erst recht – oder alles vergebens?

26. Februar 2022
von Börsenblatt

Eigentlich wollte Martin Schult, Autor und beim Börsenverein Referent für den Friedenspreis, auf unsere Sonntagsfrage gar nicht antworten. Was könnte er schon schreiben, was der Situation auch nur annähernd gerecht würde? Dann hat er doch eine Antwort verfasst – die auf den Punkt bringt, was die Buchbranche nun tun kann.

 

Bis tief in die Nacht habe ich am Donnerstag mit einem Freund in der Kneipe gesessen und über den Krieg geredet. Darüber, was wir von der Ukraine und Russland wissen und wen wir dort persönlich kennen, und über das Kriegsvokabular, das wir seit Jahren nur dafür benutzt haben, um über Vergangenes oder Unvorstellbares zu sprechen.

Aber wir haben auch über Putin geredet, der diesen Krieg als etwas anzusehen scheint, das sich nur zwischen Russland und der USA abspielt, und darüber, wie wenig wir über die Motive der Menschen in Russland wissen, warum sie ihrem Präsidenten auf Lebenszeit in den Krieg folgen – denn kann ein Krieg wirklich nur der eines Einzelnen sein?

Kann ein Krieg wirklich nur der Krieg eines Einzelnen sein?

Am nächsten Morgen lese ich mit schwerem Kopf in der Frankfurter Rundschau ein Interview mit dem russischen Schriftsteller Wiktor Jerofejew, der die Mehrheit der Russen als an Politik Uninteressierte bezeichnet, die Putins Narrativ von einem Russland, das sich verteidigen müsse, glauben - und sich mit Hilfe des Fernsehens zu seiner Armee machen lassen würden.

Unter dem Titel Der Große Gopnik schreibt Jerofejew gerade ein Buch darüber:Gopnik bedeutet so viel wie kleiner Rabauke oder Rowdy. Es gibt für mich in Russland zwei solcher Gopniks: Putin selbst und das Volk als eine Art kollektiver Gopnik. Beide sind voll aufgestauter Rachegelüste, gewaltbereit und fest miteinander verbunden. Sie passen gut zusammen.“        

Ich lese in der taz von dem ukrainischen Schriftsteller Juri Andruchowytsch, dass er sich, wenn es sein müsste, den Partisanen anschließen würde: „Putin kennt nur zwei Lösungen der Krise. Entweder ergeben wir uns und erkennen damit an, dass wir zusammen mit den Russen eine Nation sind. Oder er zerstört uns.“

Der in Moskau lebende Schriftsteller Artur Solomonow kann es nicht fassen: „Etwas in mir weigert sich, zu begreifen, dass russische Streitkräfte die Ukraine angreifen. Das ist dermaßen außerhalb meiner Vorstellungskraft … und das ist jetzt die Wirklichkeit. Ich stehe noch unter Schock. Wann ich aus diesem Zustand wieder rauskomme, ich habe keine Ahnung.“

Und Sascha Marianna Salzmann fordert uns auf, uns weiterzubilden und die Bücher von Masha Gessen, Swetlana AlexijewitschTimothy Snyder und Karl Schlögel zu lesen, die seit Jahrzehnten darüber schreiben, „wie im russischen Bewusstsein Geschichte umgeschrieben wurde. Wenn wir der Ukraine helfen wollen, müssen wir die Situation verstehen“ (zum Artikel in der taz).

Auf die dritte Frage aber hätte ich schon ein paar Antworten.

Kurz darauf erreicht mich eine Nachricht von der Börsenblatt-Redaktion mit der Bitte, ob ich einen Text für die traditionelle Sonntagsfrage schreiben würde: „Wie reagieren die Friedenspreisträger:innen auf den Krieg? Wie fühlt es sich an, in diesen Zeiten einen Friedenspreis zu organisieren? Oder: Friedenspreis in Kriegszeiten: Jetzt erst recht – oder alles vergebens?“

Mein erster Gedanke ist, diese Ehre abzulehnen. Denn was könnte ich – angesichts von Bodeninvasionen und Luftbombardierungen, angesichts von Toten, Verletzten und Flüchtenden – schon schreiben, was der Situation auch nur annähernd gerecht würde? Und für die erste Frage würde ich bis Sonntag sowieso nicht genug Antworten zusammentragen können.

Die zweite Frage wäre zwar schnell zu beantworten: Alles fühlt sich momentan sowohl richtig als auch falsch an – wie ich neben mir stehe und mich beobachte, wie ich so etwas wie einen Alltag bewältige und dazu an einem Roman über eine erfundene Liebe sitze, der sich seit Donnerstag so anfühlt, als wäre er aus der Zeit gefallen. Auf die dritte Frage aber hätte ich schon ein paar Antworten.

Denn wir haben – was den Friedenspreis betrifft –, bereits begonnen, uns mit der aktuellen Situation zu beschäftigen. Ende letzten Jahres haben wir in Kooperation mit „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ einen Podcast produziert, der sich mit dem „Großen Frieden“ von Martin Buber beschäftigt und einen Blick auf den Pazifismus im Kontext des Friedenspreises wirft.

Wir wollten ihn ursprünglich am 8. Mai veröffentlichen, dem Gedenktag für das Ende des Zweiten Weltkriegs. Jetzt steht er bereits seit einer Woche auf der Webseite des Friedenspreises – als es noch darum ging, mit Diplomatie eine Bedrohung abzuwenden.

Am letzten Mittwoch – der Krieg war nun im Bereich des Möglichen, aber trotzdem noch unvorstellbar – hat sich der Stiftungsrat zu seiner ersten Sitzung getroffen. Wir haben uns darauf eingestimmt, dass wir uns ab März wieder mit den eingereichten Vorschlägen beschäftigen, um im Juni den oder die neue Friedenspreisträger:in zu wählen.

Der Ukraine-Konflikt wird diese Aufgabe begleiten, das war uns schnell bewusst. Als die Krise dann über Nacht zum Krieg wurde, war es dem Stiftungsrat ein Bedürfnis, ja sogar ein Muss, sich dazu zu äußern und einen Appell zu veröffentlichen: „Die Ukraine hat ein Recht auf Frieden!“.

Wir müssen uns intellektuell aufrüsten – das ist es, was der Friedenspreis anbieten muss, ja was die gesamte Buchbranche anbieten muss.

Die vordringlichste Aufgabe aber liegt noch vor uns. Worte, so haben wir erfahren müssen, haben nicht geholfen, Putin davon zu überzeugen, diesen Krieg nicht zu führen. Worte – und da möchte ich Sascha Marianna Salzmann wiederholen – sind aber wichtig, um uns weiterzubilden, um der Geschichtsverfälschung Putins etwas entgegenzusetzen. Wir müssen uns intellektuell aufrüsten – das ist es, was der Friedenspreis anbieten muss, ja was die gesamte Buchbranche anbieten muss. Wir dürfen das falsche Narrativ nicht ohne Widerspruch stehen lassen.

Klingt das angesichts der aktuellen Gewalt naiv? Diese Frage verdient keine positive Antwort, denn das würde heißen, künftigen Despoten und Lügnern einfach das Feld zu überlassen. Diese Frage verdient eine andere Antwort: Der Freund, mit dem ich am Donnerstag in der Kneipe gesessen habe, kam gerade aus seinem Urlaub in Costa Rica zurück. Das zentralamerikanische Land hat 1949 seine Armee aufgelöst. Óscar Arias Sánchez, der zweimalige Präsident von Costa Rica, erhielt 1987 den Friedensnobelpreis, weil er mit seinem Engagement für einen dauerhaften Frieden in Mittelamerika gesorgt hat.

Worte können, so klein das angesichts des jetzigen Krieges für manche auch klingen mag, also wirklich etwas bewirken. Und wir brauchen sie mehr denn je, auch um unserer Regierung deutlich zu machen, was sie in unserem Namen tun soll ­- für mich zum Beispiel, dass wirtschaftliche Interessen in Zukunft immer dem Frieden und der Freiheit untergeordnet sein müssen.