INTERVIEW DER WOCHE mit Claudia Michalski

Die Leine wird länger, die Bindung wird enger

16. Januar 2021
von Torsten Casimir

Nicht erst seit Corona stellen Menschen Sinnfragen auch an ihren Job. Die Trennlinie zwischen Arbeit und Privatleben wird unschärfer. Vertrauen und Loyalität gewinnen an Bedeutung. Sagt Claudia Michalski von OMC OpenMind Management Consulting.

Bei Maslow in der obersten Ecke

Sinnfragen im beruflichen Kontext haben Konjunktur. Ist das ein Corona-Phänomen? 
Das glaube ich nicht. In unserer Beratungspraxis nahm die Sinnfrage auch vor Corona schon breiten Raum ein. „Purpose“ heißt das Stichwort. Unternehmen müssen Auskunft geben können, was sie antreibt, wozu sie da sind. In entwickelten Gesellschaften bekommt dieses Thema eine immer stärkere Bedeutung. 

Warum? 
Weil die Menschen im Prinzip schon alles haben. Es geht ihnen nicht mehr bloß um Erwerb. Wenn wir uns in der Maslowschen Bedürfnispyramide verorten sollten, wäre das in der allerobersten kleinen Ecke: Die uns bei der Arbeit tragenden Motivationen zielen meist auf Selbstverwirklichung. Materiell haben wir alles, was wir brauchen. Also richtet sich unser Interesse auf anderes, zum Beispiel auf den eigenen gesellschaftlichen Beitrag, den man leisten möchte. 

Hat sich der Fokus auf Selbstverwirklichung in der Corona-Krise noch verstärkt? 
Das kann gut sein. Nachdem sich die Unternehmen auf die veränderten Bedingungen organisatorisch eingestellt hatten, war in der Pandemie plötzlich einfach die Zeit da, auch die Zeit für mehr Selbstreflexion. Man war viel im Homeoffice, arbeitete allein. So etwas ist günstig für Nachdenklichkeit. Es verändert unser Mindset, und zwar vermutlich dauerhaft. 

Kontrolle spielt eine nachgeordnete Rolle. So wird Vertrauen gestärkt.

Claudia Michalski, OpenMind Management Consulting

Nie wieder jeden Tag ins Büro!

Löst die Erfahrung, mehr Zeit für sich zu haben, den Wunsch aus, dass man gar nicht mehr in vorige, alte Zustände zurückkehren will? 
Ja, das beobachte ich häufiger als Phänomen, dass Menschen zu mir sagen: So, wie ich jetzt arbeite, so flexibel, so ausbalanciert, möchte ich in Zukunft auch arbeiten. Wir versuchen, das Positive aus der Krise zu bewahren und mitzunehmen in die Zeit nach der Pandemie. Nie wieder jeden Tag ins Büro! Auch die Grenze zwischen Privatleben und Arbeit ist im vergangenen Jahr unschärfer geworden. In Deutschland verlief die Trennlinie traditionell sehr scharf. Das ändert sich gerade. Die Menschen können und möchten sie fließender gestalten. 

Wird eine neue Haltung zur Arbeit durch die jüngeren Altersgruppen sichtbar? 
Die Millennials, auch die Generation Y mit ihrer auch auf eigene Bedürfnisse achtenden Arbeitseinstellung färben jetzt gewissermaßen auf die älteren Generationen der Arbeitnehmer ab. Wobei eine falsche Einheitlichkeit suggeriert, wer pauschal von „den Jüngeren“ spricht. Ich kenne jüngere Menschen, die zu uns in die Beratung kommen, die suchen verstärkt nach Halt und Sicherheit und Planbarkeit; oft übrigens verbunden mit der irrtümlichen Annahme, ihre Schutzbedürfnisse erfüllten sich in sehr großen Unternehmen am besten. Das ist German Angst U 30. Ich kenne aber auch junge Leute, die haben kaum Ängste und machen sich wenig Sorgen. Die gründen lieber Start-ups. 

Wie verändern sich die Arbeitsbeziehungen in der Pandemie? 
Auf ganz interessante Weise. Ich habe bemerkt, dass Arbeitgeber, die bisher große Schwierigkeiten damit hatten, auf Vertrauensbasis mit ihren Leuten zusammenzuarbeiten und die explizit gegen freies Arbeiten im Homeoffice waren, sich diesen Möglichkeiten nun öffnen mussten. Sie stellen oft überrascht fest, dass sie sich auf ihre Mitarbeitenden doch verlassen können. Es genügt, dass man ihnen die technischen Möglichkeiten anbietet; dass sie auf Systeme zugreifen können; dass sie wissen, was zu tun ist und dass man regelmäßig in Kontakt bleibt. Kontrolle spielt dann eine nachgeordnete Rolle. So wird Vertrauen gestärkt. 

Wie reagieren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darauf? 
Sie wissen das zu schätzen und danken es mit einer höheren Solidarität und Loyalität zu ihrem Arbeitgeber. Sie merken, dass man ihnen vertraut, und diese Erfahrung verpflichtet eben auch. Man könnte sagen: Die Leine wird länger, die Bindung wird enger. Ich glaube, dass die Zeit für Innovationen und Neugestaltung von Arbeitsbedingungen noch nie so günstig war wie im Augenblick. Es herrscht eine große Offenheit dafür. 

Nun kommt die Wirtschaft bisher uneinheitlich durch die Krise. In der Buchbranche schaffen es die Unternehmen recht gut. Welche Gründe sehen Sie dafür, dass der Buchmarkt sich derzeit als eher robust erweist? 
Eine entscheidende Rolle spielt das Medium selbst, also das Buch, das schlichte Produkt. Es eignet sich in der Covid-19-Krise hervorragend dazu, die Zeit sinnvoll zu füllen. Von vielen Menschen höre ich, dass sie es schaffen, endlich mal wieder ein ganzes Buch zu lesen. Heißt doch: Sie hätten es wohl auch vorher gern mal geschafft, es ging aber nicht, es fehlte die Muße. Gleichzeitig geben Bücher zu den großen Fragen, die wir uns in der Selbstreflexion stellen, Impulse und Antworten. Da wundert es mich nicht, dass die Nachfrage nach Büchern spürbar angezogen hat. 

Welche Rolle spielt der Buchhandel dabei? 
Ich lebe in Berlin, da haben die Buchhandlungen auch im Lockdown geöffnet, sie gelten als systemrelevant, weil sie als „geistige Tankstellen“ angesehen werden. Das ist eine wunderbare Metapher dafür, dass das Buch in der gegenwärtigen Krisenzeit eine herausgehobene Bedeutung hat. Das Argument wird von Buchhändlerinnen und Buchhändlern auch hervorragend und glaubwürdig ausgespielt. 

Die Kundschaft dankt es mit Treue und Bestellfreude. 
Weil dahinter auch ein Wunsch nach Nähe in der Distanz steckt! So wie bei uns die Menschen gerne persönlich in die Beratung kommen, geht man auch gerne persönlich in „seine“ Buchhandlung – um ein paar Worte zu wechseln, aber auch, um etwas gegen die Verlustangst zu unternehmen. Es wäre doch eine Horrorvorstellung, die Buchhandlung im eigenen Viertel zu verlieren. Hier in Prenzlauer Berg versuchen viele Leute, ihren urbanen Raum durch solidarisches Verhalten zu schützen. Sie kaufen Gutscheine beim Friseur, sie kaufen ihren Wein beim kleinen Weinhändler um die Ecke. Ich tue das auch. 

Wenn ich flexibel bleibe, komme ich auch durch.

Claudia Michalski, OpenMind Management Consulting

Wie gut, dass vieles online möglich ist

Trotzdem meldet Amazon Rekordumsätze. 
Na ja, es gibt die Lockdowns, das ist doch klar. Aber als Bürger, als Bewohner eines Stadtviertels, als Kunde eines Einzelhändlers erlebt man in der Solidarität auch eine gewisse Selbstwirksamkeit. Man merkt, dass man durch sein Einkaufsverhalten jemandem etwas Gutes tut – und damit auch sich selbst. Ich kaufe zum Beispiel fast alle meine Bücher im Georg Büchner Buchladen bei mir um die Ecke. Das ist nicht bloß Einkaufsverhalten. Das ist auch ein kleiner individueller Beitrag zum Erhalt unseres urbanen Umfelds. Ich glaube, immer mehr Menschen sehen das so. 

Offenbar ist Corona nicht nur ansteckend, sondern in vielen Bereichen des Lebens auch bewusstseinsfördernd. Aber wie nachhaltig wird das sein? Bleibt das Bewusstsein, wenn die Pandemie wieder geht? 
Ja, davon bin ich überzeugt. Natürlich werden veränderte Haltungen und verändertes Verhalten irgendwann wieder etwas verblassen, aber sie werden nicht wieder verschwinden. Auch die neuen Arbeitsweisen werden bleiben. Denn ihre Begründung liegt tiefer, Corona ist nur ein Beschleuniger dieser Veränderungen. Was den Buchhandel anlangt, hat er es ein Gutteil auch in seinen eigenen Händen, ob er sich die hohe Kundenloyalität dauerhaft sichert. Der Trumpf des stationären Buchhandels ist und bleibt die persönliche Nähe zu seinen Kunden, die individuelle Beratung, das gute kulturelle Angebot, die Freundlichkeit, der zuverlässige Service. 

Trumpft er künftig auch mit seiner digitalen Kompetenz, die sich jetzt, getriggert durch die Erfordernisse in der Pandemie, beschleunigt aufbaut? 
Absolut. Der Digitalisierungsschub ist wohl der überragende „Vorteil“ dieser Pandemie. Corona hat dafür gesorgt, dass auch die hartgesottensten Digitalverweigerer eine Erfahrung machen: Wie gut, dass vieles online möglich ist! Vielen Menschen hat die schiere Notwendigkeit zum digitalen Austausch die Scheu vor neuen Technologien genommen. Vor allem die Arbeitswelt wird das nachhaltig verändern. Niemand wird künftig noch für eine zweistündige Sitzung einmal quer durch Deutschland fahren oder fliegen. Und Buchhändler, wenn sie es gut anstellen, werden ihre Persönlichkeit dem Kunden auf allen Kanälen, also auch digital zeigen können. 

Wird Nicht-Veränderung in der Zukunft noch stärker risikobehaftet sein als in der Vergangenheit, in der es für Unternehmen weniger Selektionsdruck gab? 
Definitiv ja. Nicht-Veränderung wird gar nicht mehr möglich sein. Flexibilität wird sowohl für jeden Einzelnen als auch für Unternehmen ein immer wichtigerer Erfolgsfaktor. Ich erlebe bei vielen unserer Kandidaten eine allgemeine, diffuse Angst, weil das Leben weniger planbar geworden ist. War man früher bei Daimler angestellt, bekam man quasi einen Freifahrtschein bis zur Rente. Man hatte, gefühlt zumindest, ausgesorgt. Dem ist nicht mehr so, nirgendwo. Das Gute an der gegenwärtigen Lage ist, dass diejenigen, die sich auf Veränderung und eine gewisse Unabsehbarkeit einlassen, zugleich merken: Wenn ich flexibel bleibe, komme ich auch durch. Das löst Zuversicht und Selbstbewusstsein aus. Der kleinere Sortimentsbuchhandel macht diese schöne Erfahrung gerade. Wer aber wie das Kaninchen vor der Schlange sitzt und starr bleibt, wird das Nachsehen haben. Starre und Unbeweglichkeit werden abgestraft. Das hat die Pandemie gezeigt. 

Zur Person  

Claudia Michalski ist geschäftsführende Hauptgesellschafterin von OMC OpenMind Management Consulting. Das in Berlin ansässige Unternehmen arbeitet bundesweit und berät vorrangig im Bereich Newplacement von Führungskräften. Dabei steht die konkrete Positionierung in eine neue, möglichst sinnstiftende Aufgabe im Fokus der Arbeit mit den Kandidatinnen und Kandidaten. Vor ihrem Einstieg bei OMC 2016 war die Diplom-Volkswirtin Michalski als Geschäftsführerin beim Beuth Verlag und zuletzt bei der Handelsblatt Media Group tätig. 

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