Gastkommentar des Tübinger Buchhändlers Hermann-Arndt Riethmüller

Eine Lanze für das Sortiment

14. Mai 2021
von Börsenblatt

Nicht die Barsortimente sind heute noch die Innovationstreiber der Branche. Die entscheidenden Impulse der letzten Jahre kamen sämtlich von Thalia. Meint der Aufsichtsratsvorsitzende der Osianderschen Buchhandlung, Hermann-Arndt Riethmüller.

Wieder einmal droht der Untergang des Abendlands. Gerhard Beckmann hat Ende letzten Jahres zur Kooperation von Osiander und Thalia eine "Brandrede" verfasst, die in einer dramatischen Zuspitzung gipfelt: "An der Lösung der Probleme, welche diese Geschichte aufwirft, hängt die Zukunft des deutschen Buchhandels, der deutschen Verlage, Autoren, Übersetzer und der Lesekultur des deutschen Publikums." Anfang Februar 2021 wiederholte Beckmann seine Vorwürfe in einem Offenen Brief an den Präsidenten des Bundeskartellamts Andreas Mundt mit etwas weniger Schaum vor dem Mund.

Widerspruch gegen die Anschuldigungen des Altverlegers und Publizisten erhob sich nicht, weder von Seiten des Sortiments noch aus dem verlegerischen Kollegenkreis, obwohl Brandrede und Brief in den buchhändlerischen Medien prominent platziert waren – ein Zeichen allgemeiner Zustimmung oder angemessene Nicht-Reaktion auf abstruse Thesen? Weil Beckmann in Aufsatz und Brief Auffassungen bündelt, die branchenpolitisch wie auch buchhandelsgeschichtlich gängige Klischees bedienen, halte ich es durchaus für reizvoll, seine inhaltliche Argumentation ein klein wenig unter die Lupe zu nehmen.

Die Argumentationskette von Gerhard Beckmann kann "wutbereinigt" in vier Thesen zusammengefasst werden:

  1. Die Großfilialisten bündeln eine Marktmacht, die eine "Art Monopol" gegenüber den Verlagen schafft.
  2. Amazon ist auf dem deutschen Markt schwach, weil die unabhängigen Buchhandlungen stark sind.
  3. Die herausragenden Innovationsleistungen der Barsortimente sind verantwortlich dafür, dass es der deutsche Buchhandel "im Dienst am Kunden mit Amazon aufnehmen kann".
  4. Die Stärke des deutschen Buchhandels ist das Verdienst des unabhängigen Sortiments, den Großfilialisten fehlt eine aktiv kunden- und leserbezogene buchhändlerische Orientierung.

Das Bemerkenswerte an diesen Thesen ist weniger, dass sie schlicht falsch sind, sondern dass sie dem deutschen Buchmarkt vorgaukeln, eigentlich sei alles in schönster Ordnung, wenn da nur nicht ein paar Störenfriede mit ihrer Marktmacht das bewährte Geschäftsmodell in Frage stellen würden.

Im Buchhandel hat diese Argumentation Tradition. Das Ende des Buchhandels wurde schon beschworen, als die Leipziger Großbuchhändler Mitte des 18. Jahrhunderts den "Nettohandel" einführten und damit dem "Tauschhandel" den Todesstoß versetzten. Im 19. Jahrhundert wehrten sich die Buchhandlungen gegen eine zunehmend demokratisierte und kommerzialisierte Medienlandschaft, die das überkommene Geschäftsmodell durch hemmungslosen Nachdruck, Leihbüchereien, Direktvertrieb von Groschenliteratur und "Schleuderei" gefährdete. Und nach dem Zweiten Weltkrieg drohte das Ende der Buchkultur zunächst durch Buchgemeinschaften, dann durch das Taschenbuch. Innovationen auf dem Buchmarkt wurden zunächst meist als Tabubruch empfunden, weil sie die überkommenen Traditionen und damit das Auskommen der bisherigen Nutznießer in Frage stellten.

1. Das Quasi-Monopol

Es ist richtig: Die Nachfragemacht, die hinter einem Umsatzvolumen von 1,2 Milliarden Euro steht, verleiht Thalia eine sehr starke Verhandlungsposition gegenüber Lieferanten. Allerdings macht das nach Ansicht von Beckmann auf dem deutschen Buchmarkt so schwache Amazon im Buchsegment einen Umsatz von 1,5 Milliarden Euro. Dass Nachfragemacht notwendig ist, beweist die Situation der vielgepriesenen unabhängigen Buchhandlungen, die als Garant der Buchkultur gefeiert werden, aber keine ausreichenden Funktionsrabatte erhalten, weil sie keine Marktmacht haben und Lob weniger kostet als höherer Rabatt. Allerdings bildet der Rabatt nur einen von mehreren Erlösparametern ab. Über wichtige andere Parameter – vor allem die Anzahl der veröffentlichten Titel, die Auflagenhöhe und die Festlegung des gebundenen Ladenpreises – entscheidet allein der Verlag, obwohl Überproduktion und Ladenpreisentwicklung die wirtschaftliche Situation des Sortiments ganz unmittelbar betreffen. Und der Verlag hat die Wahl des Vertriebswegs: Inzwischen werden über 21 Prozent des Buchmarktumsatzes als Direktvertrieb der Verlage ausgeführt, über das Sortiment laufen gerade noch 46 Prozent, der Internetbuchhandel liegt bei 20 Prozent (das sind die Marktanteile von 2019, vor Corona!).

Dass es richtig ist, wenn das Sortiment Rabatte nicht als gottgegeben bzw. verlagsbestimmt hinnimmt, zeigt eine ganz kurze historische Reminiszenz: Im 18. Jahrhundert diktierten die Leipziger Verlage dem Sortiment die Preise. Bei 25 Prozent abzüglich einem willkürlichen Umrechnungskurs und der Versandkosten mussten zum Beispiel die süddeutschen Buchhandlungen praktisch brutto für netto einkaufen. Jahrzehnte später erreichte der Sortimentsbuchhandel, dass die Verlage 33 Prozent Rabatt zu geben bereit waren. Die niedrigen Rabatte hatten eine ganz direkte Auswirkung auf die Gehälter im Sortiment, die bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts bei 10 Prozent des Umsatzes lagen. Nur weil es dann gelang, den Verlagen höhere Rabatte abzuringen, konnten die Mitarbeitergehälter auf 18 bis 20 Prozent des Umsatzes steigen. Die Historie zeigt also eine eindeutige Korrelation: Je besser die Verlagskonditionen, desto höher die Gehälter im Sortiment. Und dass gute Sortimentsrabatte nicht automatisch den Verlagsruin bedeuten, zeigte sich, wieder einmal, am 30.03.2021, als Bertelsmann ein Betriebsergebnis nach Steuern von 1,5 Milliarden verkündete, bei einem Umsatz von 17 Milliarden Euro.

2. Die Bedeutung der Barsortimente und Thalia als Dienstleister

Die weltweit einzigartige Vertriebsleistung des deutschen Buchhandels beruhte in der Vergangenheit vor allem auf der Existenz der Barsortimente, deren Logistik Bücher innerhalb einer Nacht an jeden Buchhandelsort in Deutschland brachte. Die Webshops der meisten unabhängigen Buchhändler basieren heute auf Shopsystemen der Barsortimente.

Der Versuch von Osiander, zusammen mit der Mayerschen Buchhandlung eine unabhängige IT-Plattform aufzubauen, um ein einheitliches Multi-Channel-System von der Warenwirtschaft über den Vertrieb bis zur betriebswirtschaftlichen Auswertung zu schaffen, scheiterte letzten Endes an den angesichts der hohen Komplexität der Aufgabe zu geringen finanziellen und personellen Ressourcen der beiden Unternehmen. Eine Marktanalyse der bestehenden Multi-Channel-Systeme im Buchhandel zeigt, dass die entscheidenden Impulse in den letzten Jahren von Thalia kamen:

  • Der Tolino ist weltweit der einzige E-Reader, der dem Kindle von Amazon Paroli bieten kann; inzwischen profitieren alle unabhängigen Buchhandlungen mit Libri als Barsortiment ganz direkt davon, dass Thalia zusammen mit Hugendubel und Weltbild den Tolino marktfähig gemacht hat.
  • Die Multi-Channel-Strategie von Thalia verbindet Online- und Shop-Angebot zu einer durchgängigen Plattform, über die der Kunde je nach Laune und aktueller Situation aus beiden Welten die im Augenblick für ihn passendste Kombination wählen kann.
  • E-Book-Verkauf im Laden; Hörbuch-Abonnement und Hörbuch-Download; Lieblingsbuchhändler; Scan & Go und Abkassieren auf der Fläche zur Vermeidung von Kassenschlangen; Abholstationen, damit der Kunde unabhängig von Ladenöffnungen zu seinem Buch kommt; ein schlanker Prozess, der den Online-Kunden meist innerhalb von 15 Minuten nach Bestellung über die Abholmöglichkeit eines Buches informiert; Dispositionsprozesse vom Bestandsvergleich mit Spiegel-Bestsellerlisten über die Kennzeichnung von Kompetenztiteln bis zur zentralen Steuerung aktueller Titel – der Kunde erhält einen Mehrwert, der dem Amazon-Mantra des totalen Kundennutzens  entspricht und Kundenbindung schafft.

Dagegen haben es die Barsortimente bis heute nicht geschafft, ein gemeinsames Logistik-Konzept zu entwickeln, das die ökologisch und betriebswirtschaftlich unsinnigen Einzelzustellungen ablöst. Nein, die Barsortimente sind heute ganz gewiss nicht mehr die Innovationstreiber der Branche.

Das Kriterium ist nicht "unabhängig" oder "Kette", sondern der Standort.

Hermann-Arndt Riethmüller

3. Der unabhängige Buchhändler als Retter der Buchkultur

Das "unabhängige Sortiment" kann sich in branchenübergreifenden Lobeshymnen baden, wonach die inhabergeführten kleinen Buchhandlungen in Coronazeiten mit kreativen Ideen ihre Umsätze halten oder sogar verbessern konnten, während die großen Filialketten Umsätze verloren haben. Dieser Befund hält einer Überprüfung nicht stand. Im November 2020 erzielte die Osiander-Buchhandlung in Rottenburg einen Umsatzzuwachs von 23,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr, Bad Cannstatt verbesserte das Ergebnis um 27 Prozent, Bühl immerhin um acht Prozent. Richtig schlecht dagegen lief es in Einkaufs- und Tourismuszentren und in den schweiznahen Buchhandlungen: 32 Prozent weniger Umsatz in den ECE-Einkaufszentren Frankfurt und Stuttgart, 36 Prozent weniger in Konstanz, 30 Prozent weniger in Oberstdorf. Die Filialketten haben in Corona-Zeiten deshalb Umsatzverluste, weil die von ihnen besetzten Standorte vor allem in hoch frequentierten 1a-Lagen und in Einkaufszentren liegen, die zugunsten der Kleinstädte verloren haben. Das Kriterium ist nicht „unabhängig“ oder „Kette“, sondern der Standort.

Beckmanns Statement, die Filialketten und Großbuchhandlungen würden nur Massenware verkaufen, während die unabhängigen Buchhandlungen für die Erhaltung der Buchkultur stehen würden, ist ein gern gepflegter Topos im buchaffinen Feuilleton. Im Internetzeitalter kann man den Wahrheitsgehalt derartiger Feststellungen ziemlich einfach überprüfen. In Bad Säckingen residiert die Buchhandlung Schwarz und Weiß von Frau Siebrands, Vorstandsmitglied von eBuch, der größten Einkaufsgemeinschaft unabhängiger Buchhandlungen. In Weil am Rhein, 40 Kilometer entfernt, liegt eine Thalia-Buchhandlung. In der Thalia-Buchhandlung waren zwölf Titel von Kein & Aber vorrätig, in der unabhängigen Buchhandlung Schwarz und Weiß zwei Titel. 14 Tage später ergab die Kontrolle sieben vorrätige Titel bei Thalia, vier vorrätige Titel bei Schwarz und Weiß. Das gleiche Bild beim Unionsverlag: von den 20 ersten Titeln (sortiert nach Relevanz) war im Libri-Webshop von Schwarz und Weiß kein einziger Titel vorrätig, bei Thalia in Weil am Rhein standen drei Titel zur Abholung bereit. Die ersten zehn Titel von Kiepenheuer & Witsch: zwei Titel in Bad Säckingen, alle zehn Titel in Weil am Rhein …

In einem allerdings kann ich Gerhard Beckmann uneingeschränkt zustimmen: Das Buch ist "auch für die weitere Zukunft nicht ersetzbar". Gerade die Sozialen Medien belegen mit ihrer Flüchtigkeit und Manipulationsfähigkeit die Aktualität des gedruckten Worts im klassischen Medium Buch. Nur Buchhandlungen bringen Bücher dorthin, wo sie vom Publikum direkt wahrgenommen werden können: ohne die großen Buchhandelsketten gäbe es heute in vielen frequentierten 1a-Lagen keine Schaufenster für Bücher mehr, um die vielen inhabergeführten Buchhandlungen in ihrer thematischen Vielfalt beneidet uns die ganze Welt.

Hermann-Arndt Riethmüller, Osiandersche Buchhandlung