Interview mit Jürgen Kaube zum Deutschen Sachbuchpreis 2021

"Erst denken, dann twittern"

16. Juni 2021
von Sabine Schmidt

Unzeitgemäß, aber hochaktuell: Der Deutsche Sachbuchpreis soll auf Titel aufmerksam machen, die Impulse für die Gegenwart geben – und das tut Jürgen Kaubes historisches Buch "Hegels Welt". Ein Gespräch mit dem Preisträger über die Leichtigkeit des Schreibens, die Arbeit der Recherche und die Bedeutung des Denkens.

Sie waren einer von acht Nominierten, hatten also eine reelle Chance, dass Ihr Buch mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet wird. Sie wirkten bei der Preisverleihung aber komplett überrascht – warum?
„Hegels Welt“ hat keinen direkten Gegenwartsbezug, der Titel war zudem der älteste unter den acht Nominierten: Das Buch ist im vergangenen August erschienen. Abgegeben hatte ich es bereits im Mai 2020 und hatte wohl innerlich mit diesem Projekt abgeschlossen. Ich fand es toll, auf der Liste der Nominierten zu sein, habe aber nicht im Traum daran gedacht, dass es den Preis erhalten könnte.

Die Jury betont, dass „Hegels Welt“ zwar keinen direkten, aber durchaus einen Gegenwartsbezug hat: Indem es sich mit dem Drang des Philosophen befasst, sich mit der Welt auseinanderzusetzen und sie zu verstehen.
Das stimmt, und das gehört zu dem, was mir selbst sehr wichtig ist. Hegel hat sein ganzes Leben der sachlichen Auseinandersetzung gewidmet, hatte einen unglaublichen Zug zur Objektivität, wollte der Dynamik und Komplexität seiner Zeit auf den Grund gehen. Sein Anspruch, ein Universalgelehrter zu sein, ist heute natürlich nicht wiederholbar – aber die Energie ist faszinierend, die er in das Verstehenwollen von Allem hineingesteckt hat.

Das Nachfragen und Nachdenken Hegels – ist das etwas, was unsere Zeit mit dem Aufleben etwa von Verschwörungstheorien oder mit Fake News besonders braucht?
Groteske Ansichten haben die Moderne bereits zu Hegels Zeiten begleitet, das ist nicht neu. Zum Beispiel war es damals populär, Menschen nach ihrer Physiognomie zu beurteilen. Hegel hat dann sarkastisch gefragt, ob das auch für zertrümmerte Nasen gilt. Das ist sicherlich etwas brachial, zeigt aber, wie er dachte: Er hat sich Tatsachen, Meinungen, Wahrheiten sehr genau angeschaut und ihre Konsequenzen ausbuchstabiert.

Was sollte man von ihm lernen?
Nachdenken über Begriffe und Behauptungen. Und: Erst mal innehalten, bevor man twittert. Widerstand also gegen zu schnelles Meinen, gegen das Hineinpressen von Meinungen in ein paar Zeichen. Der Diskurs besteht sonst nicht aus durchdachten Sätzen, sondern einfach nur aus Sätzen, Small Talk und Aufregung.

Ist es nicht gerade für Sie als Journalist schwierig, sich diesem Druck zur Sofort-Meinung zu entziehen?
Natürlich, wir sitzen hier durchaus im Glashaus. Auch uns kann man vorwerfen, dass wir schnell mit Meinungen sind, während andere erst mal vier Jahre forschen. Dennoch: Es wäre viel gewonnen, wenn es zumindest einen gewissen zeitlichen Abstand zwischen Denken und Schreiben gibt; wenn man nicht wie Donald Trump jeden Gedanken postet, den man überhaupt hat; oder wenn man die Gedanken, die man senden will, vorher mal einem anderen zeigt.

Sie sind Herausgeber der FAZ. Wie haben Sie Zeit gefunden, ein 600 Seiten starkes Buch mit einem äußerst anspruchsvollen Thema zu schreiben?
Das Schreiben ist nicht das Problem: Das geht nachts, frühmorgens, an Wochenenden, in den Ferien. Die zeitlichen Herausforderungen liegen dagegen im Lesen und in der auswählenden Anordnung dessen, was seit Jahren die Notizbücher gefüllt hat.

Wie ist Ihnen das gelungen – zumal Hegel ja nicht gerade ein leicht zugänglicher Denker ist?
Ich beschäftige mich mit ihm seit rund 40 Jahren – seit meinem Philosophiestudium. Es gab damals Seminare, die in einem Semester nicht mehr als drei Absätze weit kamen. Das war unglaublich intensiv, das hat enorm viel in Bewegung gesetzt. Auch nach dem Studium habe ich mich immer wieder mit Hegel befasst, habe Sekundärliteratur gelesen, war mit Hegelforschern im Gespräch. So entstand dann über die Jahre ein Eindruck, was in einem solches Buch gesagt werden kann, was in es hineingehört.

Das klingt aber doch so, als ob Sie ein wenig tiefstapeln. Wie sah die Arbeit denn konkret aus?
Nachdem ich mit Rowohlt dieses Buch vereinbart hatte, habe ich mich noch einmal durch die zwanzigbändige Werkausgabe hindurchgelesen. Inzwischen gibt es auch viele sehr gute Kommentare, deutsche, französische, amerikanische, von ganz unterschiedlichen Interpreten. Auch das ist sehr erhellend: Denselben Text aus einer Reihe von Perspektiven betrachten zu können.

Wenn jemand Ihr Buch zum Anlass nehmen will, ihn zu lesen – was empfehlen Sie?
Eine der Berliner Vorlesungen: über Ästhetik oder über Religion. Für Mutige: die Phänomenologie des Geistes, dazu aber unbedingt einen Kommentar – so kann man dann auch mehr schaffen als nur drei Absätze pro Halbjahr.