Kolumne von Linus Reichlin

Die Wahrheit über Homeoffice

20. Januar 2021
von Börsenblatt

Galiani-Autor Linus Reichlin hat einen urkomischen Text über seine Corona-Erfahrungen im Homeoffice geschrieben. Hier in ganzer Länge.

Ich habe gestern die Striche auf meiner Wohnzimmerwand gezählt: Es sind 255.500. Das bedeutet, ich bin jetzt seit 700 Jahren im Homeoffice. Der Graf von Monte Cristo verbrachte 14 Jahre im Kerker – das wirkt gegen meine 700 Jahre wie eine Kaffeepause. Man versteht nicht mehr, weshalb wegen einer so kurzen Haftzeit ein 944 Seiten langer Roman geschrieben wurde! Wie lange müsste dann erst der Roman sein, der über mein Homeoffice geschrieben wird!

Und vor allem: Wer außer mir sollte den schreiben (denn ich habe dazu keine Zeit)? Gibt es da draußen überhaupt noch Schriftsteller? Gibt es noch Gastwirte? Kellner? Theaterregisseure? Prostituierte jeglicher sexueller Couleur? Tanzlehrer? Zahnärzte? Ich habe keine Ahnung.

Meine Freunde jedenfalls scheinen alle tot zu sein, denn den letzten habe ich vor 453 Jahren und 75 Tagen gesehen. Ich begegnete ihm auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt, und er winkte mir aus 10 Metern Distanz zu und rief durch den Mundschutz hindurch: "Ich muss ein bisschen aufpassen! Asthma!" Dann verschwand er auf Nimmerwiedersehen. Ich schrieb zu Hause in mein Tagebuch: "Habe R. gesehen. Vielleicht war es auch P. Hinter der Maske sehen sie alle gleich aus. Jetzt die Begonia eiromischa gießen. Was für eine schöne Pflanze! Bald werde ich mit ihr sprechen!"

Die Begonia eiromischa gilt schon lange als ausgestorben, doch 278 Jahre, nachdem ich ins Homeoffice gegangen war, bildete sich auf meinem Notebook ein zartgrüner, flauschiger Film pflanzlichen Gewebes. Dieses verbreitete sich binnen einer Woche über den ganzen Schreibtisch und trieb dann elegante, schildförmige Blätter aus. Die bei mir wiederauferstandene, ursprünglich in Indonesien endemische Begonienart hat inzwischen die ganze Wohnung überwuchert, so dass mein Homeoffice-Arbeitsplatz eigentlich eine kleine Lichtung inmitten eines Urwalds ist. Mir fehlen zum authentischen Dschungelgefühl nur noch ein paar Kapuzineräffchen und zwei, drei Baumnattern.

Es würde gut aussehen, wenn diese giftig-grünen Schlangen über die Tastatur meines Notebooks kriechen würden, und es wäre eine plausible Ausrede dafür, weshalb meine Arbeitsleistung seit 200 Jahren zu wünschen übriglässt. Eins steht fest: Mein Chef lebt noch. Ab und zu schickt er mir Mails, in denen er mehr Output verlangt. Hätte ich Baumnattern, könnte ich ihm ein Foto von ihnen schicken mit der Bemerkung: "Die hohe Giftschlangenpopulation auf meiner Tastatur zwingt mich leider zu Kurzarbeit."

Worin genau meine Arbeit besteht, habe ich übrigens im Laufe der Jahrhunderte vergessen. Ich weiß nur, dass ich Output liefern muss, und ich bemühe mich ja auch! Aber im Homeoffice gibt es so viele Ablenkungen! Vor allem ist man durch sich selbst abgelenkt, denn man ist ja zu Hause. Man will sich kratzen, in der Nase bohren, im Pyjama rumlaufen. Und man will kochen, putzen, ausgestorbene Pflanzen gießen und sich nachmittags einen Spielfilm ansehen. Und man möchte ein Gläschen Wein trinken beim Arbeiten. Und genau dann, wenn man sich dank des Alkohols endlich auf die Arbeit konzentrieren könnte, piepst die Waschmaschine, weil die 60-Grad-Wäsche fertig ist. Soll man die nasse Wäsche jetzt etwa in der Trommel liegen lassen, nur weil die Chefin auf den Output wartet?

Die Wahrheit über Homeoffice ist, dass nasse Wäsche nicht warten kann, die Arbeit aber schon. Seit zwei Jahrhunderten verschiebe ich den Ausstoß meines Outputs zeitlich so weit wie möglich nach hinten, so dass ich nach einem Tag voller Ablenkungen und häuslicher Pflichten oft erst um 20.00 Uhr überhaupt zu arbeiten beginne. Und meistens ehrlich gesagt leicht angeheitert. Doch alles in allem blicke ich zuversichtlich auf die kommenden 500 Jahre, in denen der Dschungel meinen Schreibtisch verschlucken wird.

Am 11. Februar erscheint der neue Roman von Linus Reichlin „Señor Herreras blühende Intuition“, über einen Schriftsteller, der sich zwar nicht im Homeoffice, dafür aber in einem Kloster befindet, um durch minimale Ereignisdichte einen maximalen Kreativitätsschub zu provozieren, und der aber anstelle dessen ständig abgelenkt wird von einem Matador (Señor Herrera), der auf Klosterkoch umgeschult hat, und dem einiges nicht geheuer ist an seinem Arbeitsplatz.

Text von Linus Reichlin mit freundlicher Genehmigung des Verlags Galiani Berlin.

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