Der Weltempfang der Buchmesse

Aus der Globen-Welt

17. Oktober 2020
von Matthias Glatthor

Corona-Krise, Cancel Cultur und Kolonialismus: Der "Weltempfang" deckt in diesem Jahr unter dem Motto "Europa – Kulturen verbinden" ein breites Spektrum ab. Zum ersten Mal in komplett digitaler Form. Eindrücke aus der Laptop-Perspektive.

Der "Weltempfang", die gesellschaftspolitische Bühne der Frankfurter Buchmesse, wartet an fünf Tagen mit zwölf Veranstaltungen auf. Das Gemeinschaftsprojekt der Frankfurter Buchmesse und des Auswärtigen Amtes hat in diesem Jahr das Motto "Europa – Kulturen verbinden". Corona-bedingt findet die Bühne zum ersten Mal komplett digital statt. Corona und die Folgen für Kultur, Literatur und Politik nehmen einen breiten Raum ein, ebenso wird über Flucht, Migration und Rassismus reflektiert. Wie funktioniert das weltweite Get-together am Laptop oder Computer?

Nach dem zweiminütigen Countdown der Premiere-Funktion bei YouTube, dessen Bild an das nächtliche Pausenbild aus der TV-Steinzeit erinnert, starten die jeweiligen Sessions – ein "Weltempfänger" kommt groß ins Bild, eine Finger schaltet ein und die Hand dreht am Regler, aus den Geräuschfetzen meint man einige Töne von Jimi Hendrix‘ "Star Spangled Banner" herauszuhören. Dann ist das richtige Programm gewählt – und es geht ins Studio, in dem Leuchtgloben platziert sind (auch auf der Rückwand sind Globen abgebildet). Rechts sitzen jeweils die Moderator*innen in einem schwarzen Sessel. Die Gesprächspartner*innen sind auf Screens zugeschaltet: zu sehen sind sie vor Bücherregalen, in neutralen Räumen oder vor Baumkulisse.

Die Bild- und Tonqualität schwankt, logisch. Kleinere Pannen inklusive: So wird bei den ersten beiden Veranstaltungen vergessen, die nervige Musikschleife im Hintergrund auszuschalten. Die Videos sind (meist) vorab aufgezeichnet worden, werden aber erstmals auf der Buchmesse ausgestrahlt. Wenn man an die Anzahl der Sitzplätze vor den beiden "Weltempfangs"-Bühnen in vergangenen Jahr denkt, ist die Zuschauerzahl digital sogar etwas größer. Das zeugt von der Qualität des Programms, wofür den Organisatoren ein großes Lob gebührt.

Eröffnung auf der ARD-Buchmessenbühne

Live und von anderer Stelle, auf der ARD-Buchmessenbühne, wird die Eröffnung des "Weltempfangs" am Mittwochabend gesendet – allerdings ohne Publikum. Moderator Gert Scobel sowie Messedirektor Juergen Boos und Giuliano da Empoli (der Politikwissenschaftler war stellvertretender Bürgermeister für Kultur in Florenz und politischer Berater von Matteo Renzi; er gründete und leitet den Volta Think Tank in Mailand) sind im Studio, Geert Mak (ein niederländischer Journalist, Publizist und Sachbuchautor) und Priya Basil (eine britische Autorin und Menschenrechtsaktivistin) werden per Video zugeschaltet. Andreas Görgen (Leiter der Abteilung Kultur und Kommunikation im Auswärtigen Amt) schickt ein Grußwort per Video.

Umrissen wird in der Runde das "Weltempfangs"-Programm der nächsten Tage. Juergen Boos weist auf die Corona-Pandemie und die "einschneidenden Konsequenzen für ganz Europa" hin, sowie auf die wichtige Rolle der aktuellen EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands in diesem Zusammenhang. "Als wir uns – auch vor diesem Hintergrund – für das Thema entschieden haben, wollten wir einerseits die komplexe Situation in den Blick nehmen, gleichzeitig aber auch nach den Chancen fragen, die sich in dieser schwierigen Zeit bieten", so Boos. Wichtig sei es dabei den Blick zu weiten, so werde sich das Programm Europa aus verschiedenen Blickwinkeln nähern – von Kinderliteratur bis Gendering.

Andreas Görgen betont die beiden Lesarten des Programm-Mottos, nämlich: "Europa-Kulturen verbinden" und "Europa – Kulturen verbinden (Ausrufezeichen)". Schön seine Anmerkung: "Europa gelingt nicht griesgrämig, Europa kann nur gelingen, wenn wir das als fröhliche Aufgabe angehen." Eine fröhliche Aufgabe bedeute auch, "dass wir rausgehen aus der Realität und uns trauen Literatur als eine Möglichkeit für andere Welten zu begreifen und daraus Kraft zu schöpfen für das, was wir jeden Tag tun."

Grundtenor der Teilnehmer war, dass Europa die lange vernachlässigte Kulturpolitik wieder stärker ins Visier nehmen müsse. "Kultur und Politik können nicht getrennt werden", so etwa Giuliano da Empoli, der auch ein europäisches Förderprogramm für Autor*innen ins Spiel bringt, eine Art "New Deal" für die Kultur. Dabei sollten Kontroversen zugelassen werden. "Cancel Culture" sei gefährlich, bedrohe die Freiheit, meint auch Geert Mak.

Das Video der Eröffnung zum Nachschauen:

Das Video der Eröffnung des "Weltempfangs"

"Cancel Culture" ist dann – neben Hate-Speech – auch ein Aspekt bei der folgenden ersten Veranstaltung "Europa bleibt diskursfähig – Wie wir miteinander reden wollen". Gestriffen wird dabei von Marie-Luisa Frick, Marina Weisband, Petra Weitzel und Lena Falkenhagen auch die Causa Lisa Eckhart, hier gehen die Meinungen auseinander. Weiter geht es um den Sprachgebrauch gegenüber Minderheiten und diversen Menschen. Über Geschlecht und Sprache diskutiert auch die Runde "Europa, Sprachen und Gerechtigkeit – Gendering im europäischen Kontext" am Messe-Donnerstag mit der Autorin Nina George, der Übersetzerin Karen Nölle sowie dem Autor und Musiker Thomas Meinecke.

"Wir müssen auch das schmutzige Wasser anschauen"

Eine Atmosphäre wie bei Auftritt von Luisa Neubauer ("Fridays for Future") mit vollbesetzten Sitzreihen auf der FBM 2019 entsteht am heimischen Bildschirm zwar nicht, aber es gibt viele, viele Momente, die hängenbleiben. Etwa die Freude, der Teilnehmer*innen an den Veranstaltungen. Ein Vorteil zudem: Man kann die Videos mehrfach anschauen, verpasste Termine später nachholen. Das lohnt sich, wurden doch brennende Themen zum gesellschaftlichen Miteinander angesprochen.

Eindruck hinterlässt das Gespräch "Gemeinsam! Kultureller Neubeginn in Europa, von der Erinnerung zu einer gemeinsamen Geschichte" mit der italienischen Schriftstellerin Francesca Melandri ("Alle, außer mir") und der deutschen Autorin Nora Bossong ("Schutzzone"). Beide bemühen sich, Europas Kolonialgeschichte und deren Folgen bis heute stärker oder überhaupt ins Blickfeld zu rücken, als Chance, europäische Geschichte neu zu denken. Bücher oder Filme könnten Menschen "viel besser erreichen", so Bossong, um deren Sichtweise zu verändern: "Man muss die Leute gewinnen". Dabei müsse man alles ans Licht bringen, die Geschichte umschreiben, findet Francesca Melandri: "Wir müssen auch das schmutzige Wasser anschauen, das Wasser stinkt."

Klaus-Dieter Lehmann, der scheidende Präsident des Goethe-Instituts, nimmt am Messe-Donnerstag an der Runde "Das Ende einer verbundenen Welt?" teil, schildert die Erfahrungen mit der weltweiten Corona-Pandemie. Für die Goethe-Institute sei es zunächst eine "krisenhafte Situation" gewesen, viele mussten schließen. Aber schnell hat man digitale Plattformen ("wir hatten die Infrastruktur") aufgesetzt – mit Erfolg. Eine sinnvolle Beziehung beider Sphären – analog und digital – möchte man auch künftig beibehalten.

In Zeiten der Reisebeschränkungen sei die digitale Form die einzige Möglichkeit, Strukturen zu erhalten. Lehmann betont jedoch auch, wie wichtig physische Begegnungen für die Goethe-Institute sind. Zudem seien die weltweit verteilten Standorte Anker für die Partner-Organisationen und -Einrichtungen gerade auch in Staaten mit autoritären Regimen (die zunähmen, und wo er einen Trend zur Abschottung und Zurückdrängung der Kultur beobachtet). Lehmann deutet die Corona-Krise somit auch als eine gesellschaftspolitische Krise.

"Kinder sind so offen für alles"

Hoffnung auf eine bessere Zukunft verströmen am Freitagabend die palästinensisch-amerikanische Kinderbuchautorin Ibtisam Barakat und die deutsche Kinderbuchautorin Kirsten Boie in der Session "Die arabische Welt und Europa. Flucht und Migration in Kinderbüchern". Barakat sieht in der Kindheit eine Welt der Freiheit, die offen ist für Fantasie und alle Phänomene der Welt. "Jedes Kind weiß, dass es dauerhafte Veränderungen gibt." Dies möchte sie mit ihren Büchern schützen und so in die später erwachsenen Menschen implementieren – dann könne eine friedliche Welt entstehen.

In einem Punkt widerspricht Boie: "Man muss vorsichtig sein, Kindheit immer zu idealisieren." Es gebe auch Kinder, die ein unglaublich schreckliches Leben haben. Boie schreibt nur für Kinder, begründet es ähnlich wie wie Barakat: "Kinder sind so offen für alles – für sie ist alles neu." Bei Kindern könne sie hoffen, dass etwas bei ihnen ankommt und sie verändert. Man könne bei ihnen "ganz, ganz tiefe Eindrücke" hinterlassen. Und es gebe kein Thema, das man nicht auch für Kinder erzählen könne, "das Entscheidende ist immer das wie". Aber Kinderbücher müssten, anders als Jugendbücher, am Ende immer Hoffnung geben. Es sei sehr wichtig, "Kindern beizubringen, dass es Hoffnung gibt", stimmt Barakat zu. "Wenn wir diese Fähigkeit Kindern vermitteln, werden sie sie später behalten."

Das Thema Flucht und Migration haben die beiden Autorinnen etwa in ihren Büchern "The Lilac Girl" (Barakat) und "Bestimmt wird alles gut" (Boie) aufgegriffen und damit große Resonanz bei Kindern erzielt, wie sie erzählen. "Wenn wir jungen Menschen zeigen", so Barakat, du hast eine Katastrophe erlebt, aber du kannst noch so viel machen. Das ist doch der Schlüssel." Ein Schlüssel, der zwar nicht immer schließen wird, wenn man etwa an die Situation in den Flüchtlingslagern denkt – aber immerhin einen Hoffnungsschimmer verbreitet. Das Kind in mir will das glauben.

Am Samstag und Sonntag stehen beim "Weltempfang" noch vier Veranstaltungen auf dem Programm:

  • Zwei Seiten der Medaille – Wo treffen sich Innen- und Außenpolitik? (17. Oktober; 15:30 — 16:30 Uhr).
  • Vom Sinn und Unsinn kultureller Boykotte (17. Oktober; 17:00 — 18:00 Uhr)
  • Gestärkt aus der Coronakrise – eine neue Balance finden? (18. Oktober; 15:30 — 16:30 Uhr)
  • Die Welt danach: Bruno Latour und Hartmut Rosa über die Folgen der Corona-Krise (18. Oktober; 17:00 — 18:00 Uhr)

Zum kompletten Live-Programm des Weltempfangs

Programm und YouTube-Kanal von Litprom