Die Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises des Börsenverein Landesverbands Bayern und der Landeshauptstadt München ist für den 29. November geplant und ist abhängig von der dann aktuellen Pandemie-Lage (geschlossene Veranstaltung).
Die Jury begründet ihre Auswahl wie folgt:
"Von München, New York, Montreal oder Portland (Oregon) aus gesehen leben die Dene am Ende der Welt in bis heute kaum mit Straßen erschlossenen Gegenden der Nordwest-Territorien Kanadas. Die Dene selbst sehen sich mitten in einer Welt leben, von der sie sich nicht abgrenzen, wenn sie dazu nicht gezwungen werden. Das zeigt schon ihr Name: Dene heißt einfach Volk. Der deutsche Titel von Joe Saccos Buch bringt ihre Weltsicht auf eine Formel, die wie ein Bekenntnis aussieht, aber für die Dene eine Selbstverständlichkeit ausdrückt: 'Wir gehören dem Land'. Diese Ansicht ist das Gegenteil des Besitzindividualismus, mit dem die weißen Europäer und ihre Abkömmlinge in Übersee seit Jahrhunderten rechtfertigen, dass sie ihren Einflussbereich über die gesamte Erdoberfläche ausdehnen und die von ihnen vorgefundenen Völker zur Anpassung nötigen oder verdrängen. Das durch Bearbeitung des Landes geschaffene Privateigentum macht zu seinem Schutz die Aufteilung der Welt in Staaten notwendig: So hat der englische Philosoph John Locke den Kolonialismus begründet. In der Sicht der Dene kehrt diese Lizenz zur Ausbeutung und Privatisierung die natürlichen Verhältnisse um. Um sich und ihre Kinder so zu versorgen, wie sie es von ihren Vorfahren gelernt haben, sind sie auf Zusammenarbeit angewiesen, mit dem Land und miteinander. Man entnimmt dem Land, was man zum Leben braucht, und muss ihm dafür etwas zurückzahlen. So sagt es Saccos Originaltitel: "Paying the Land'.
Joe Sacco ist ein Pionier. Er hat eine literarische Gattung erfunden und ihr auch selbst einen Namen gegeben: 'Comic-Journalismus'. Von Portland aus reist er in Kriegs- und Krisengebiete. Er hält sich dort lange auf und nimmt sich nach der Rückkehr noch mehr Zeit, um in eine Form zu bringen, was er erfahren hat. Sein Journalismus arbeitet sozusagen zeitversetzt, nimmt von vornherein eine historische Perspektive ein. Er ist ein Bildberichterstatter neuen Typs: Indem er zeichnet, kann er mehr aufzeichnen als Fotografen, aber auch als Reporter, die nur Text produzieren. Zeugenberichte sind seine wichtigste Quelle, die er durch historische Recherchen und durch den Augenschein ergänzt. Auch die Zeugenschaft selbst ist ein Thema, und Joe Sacco, der Autor, kommt als Zeuge der Zeugnisse in seinen Bildberichten vor.
Bekannt wurde Sacco mit 'Palestine' (1993/95, deutsch 2004). Dem Bosnienkrieg widmete er zwei Bände ('Safe Area Gorazde', 2000, deutsch 2010; 'The Fixer: A Story from Sarajevo', 2003, deutsch 2015). Mit 'Wir gehören dem Land' erweitert er seinen Berichtsradius sowohl geografisch als auch thematisch. In den Siedlungsgebieten der kanadischen First Nations studiert er die Verheerungen zweier Kriege anderer Art, die schon lange andauern und allein durch den guten Willen der Parteien nicht beizulegen sind. Dort erreicht der Kampf gegen die Natur noch einmal epische Dimensionen, den der Mensch zur Gewinnung fossiler Brennstoffe führt. Und die Behandlung der einheimischen Völkerschaften durch den kanadischen Staat, der in zivilisatorischer Mission Besitz am Land und an den Menschen ergriff, ist von amtlichen Stellen inzwischen selbst als eine Art von Völkermord eingestuft worden, als kultureller Genozid.
Sacco klagt nicht an. Er dokumentiert, lässt die Menschen sprechen und das Land. Bei den Dene wird darüber beraten und gestritten, wie sie mit den Gefahren und Chancen umgehen sollen, welche die Eingliederung ihrer Heimat in den Verwertungskreislauf des globalen Kapitalismus erzeugt. Die Folgen der Umweltzerstörung und des Kolonialismus sind zwei der großen Themen unserer Zeit. Das Buch von Sacco regt zu grundsätzlichen Gedanken an, indem es eine Fülle präziser, in emphatischem Sinne lokaler Informationen bereitstellt, und ist im Sinne des Preises geeignet, 'dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben'.
Mit dem Vorschlag, erstmals in der Geschichte des Geschwister-Scholl-Preises ein Werk der Graphic Non-Fiction auszuzeichnen, möchte die Jury auch der Bedeutung Rechnung tragen, die der gezeichneten Zeitgeschichte in der historisch-politischen Aufklärung und Vermittlung zugewachsen ist, insbesondere in der Arbeit mit Jugendlichen."