Winnetou-Debatte

Die eigenen Irrtümer mitdenken

25. August 2022
von Börsenblatt

In der Debatte um das Zurückziehen der Ravensburger Winnetou-Titel ruft Lennart Schaefer, Mitglied im Berufsbildungsausschuss des Börsenvereins und früherer Nachwuchssprecher, dazu auf, sich stärker mit den Hintergründen auseinanderzusetzen - und mit der eigenen Position. 

Lennart Schaefer

Die Diskussion rund um den Ravensburger Buchverlag und das zurückgezogene Buch "Der junge Häuptling Winnetou" beschäftigt gerade viele in der Branche. Viele Kommentare dazu haben mich frustriert, einige haben mich sogar wütend gemacht. Das liegt unter anderem an folgenden Punkten:

Eine Reihe von Missverständnissen

Es geht nicht um die Empörung einer Gruppe von Aktivisten auf Social Media, sondern um die Kritik der Betroffenen. Es gibt auch keine Zensur, weil nichts verboten wurde, sondern nur Rücksicht genommen. Es steht auch keine Bücherverbrennung vor der Tür, weil das aus einer Diktatur hervorgegangen ist und es gerade um das Gegenteil geht - um Vielfalt, darum, allen zuzuhören und alle verstehen zu wollen.

Und dann heißt es oft, dass die Kritik ja "nur" von einer Minderheit kommt. Aber ist es nicht ein Fortschritt, dass wir auf Minderheiten hören, Rücksicht nehmen? Wachsen wir denn nicht genau so als Gesellschaft?

Und dann heißt es, kulturelle Aneignung sei doch etwas Schönes, wir essen z.B. ja auch gerne "Pizza". In der Zeit, in der man so einen schiefen Vergleich in die Kommentarspalten tippen kann, hätte man den Begriff auch einfach bei Wikipedia suchen können: "Im engeren Sinn wird als 'kulturelle Aneignung' angesehen, wenn Träger einer 'dominanteren Kultur' Kulturelemente einer 'Minderheitskultur' übernehmen und sie ohne Genehmigung, Anerkennung oder Entschädigung in einen anderen Kontext stellen.' Geschichten aus anderen Ländern sind also nicht alle automatisch kulturelle Aneignung und die Pizza auch nicht – Glück gehabt.

Ravensburger hat nach einer falschen Entscheidung die richtige getroffen (auch wenn der Grund für das Zurückziehen natürlich nicht die "negativen Rückmeldungen" sein sollten, sondern der Inhalt des Buchs). Warum sollte man einen verletzenden Inhalt publizieren, um eine Diskussion zu ermöglichen, die es ja offensichtlich auch gerade ohne das Buch gibt?

Dass Karl May ein Kind seiner Zeit war, ist keine Entschuldigung, wenn diese Zeit eine ist, in der es egal war, wie sich Menschen außerhalb des eigenen Dunstkreises fühlen, eine Zeit, in der man das noch nicht einmal mitbekommen hat.

Die Kultur der Natives lebt – auch in Deutschland. Warum hören wir ihnen nicht zu?

Und dann kommen in der Presse wieder hauptsächlich weiße Menschen zu Wort und in den Kommentarspalten wird gefordert, mal den Autor zu fragen, was er darüber denkt, anstatt Native Americans eine Plattform zu bieten. Weil man nämlich nicht wirklich an einem Diskurs interessiert ist, wie man es gerne vorschiebt, sondern eigentlich nur die heile Welt aufrechterhalten möchte, in der die eigene Intention mehr zählt als das, was beim Gegenüber ausgelöst wird. Eine bequeme Welt, für die man bei den Rechtfertigungen auch gerne mal erfinderisch wird.

Was derartige Filme und Bücher für Auswirkungen haben, kann man in den Erfahrungsberichten der "Natives in Germany" nachlesen (Instagram: @natives_in_germany). Ein indigenes Kind erzählt, dass es in der Grundschule "mit Howgh und wildem Hand-auf-Mund-Getrommel" begrüßt wurde, als es von der eigenen Abstammung erzählte. Dort wird außerdem erklärt, warum das Wort "Indianer" rassistisch ist. Diese Gruppe sorgt für kostenlose Aufklärarbeit und doch scheint es immer noch einfacher, einen wütenden, verletzenden, uninformierten Kommentar bei Facebook und Instagram und auch beim Börsenblatt zu tippen, als sich mit den Informationen, die leicht zugänglich einsehbar sind, auseinanderzusetzen.

Es geht nicht darum, einer "Meinung" nachzugeben, sondern sich zu fragen, was mehr wiegt – ein durch viele großartige Kinderbücher ersetzbares Leseerlebnis oder das Verletzen von Mitmenschen, die wegen solcher Filme und Bücher gemobbt werden und deren Kultur und Geschichte verdreht wird? Auch übergeordnet ist das die Frage: Ist es wirklich schlimm, zum Beispiel ein Wort aus dem Wortschatz zu streichen, das eigene Leben so minimal anzupassen? Ist es nicht viel schlimmer, jeden Tag Ausgrenzung zu erfahren und sich dann auch noch verteidigen zu müssen, wenn man die Kraft aufbringt, darauf aufmerksam zu machen?

Rassismus ist keine Meinung

Und Rassismus ist keine Meinung. Es ist auch absurd, wenn ein Mensch, der in seinem ganzen Leben keine Rassismuserfahrung hatte, einem Menschen, der damit tagtäglich konfrontiert wird, erzählt, was denn nun Rassismus ist und was nicht. Einige Menschen in der Buchbranche sind sich ihrer Rolle, ihrer Position, ihrer Privilegien offenbar nicht bewusst und das ist ein echtes Problem, weil diese Intoleranz jeden Tag von indigenen Menschen, von People of Colour und queeren Menschen ertragen werden muss

Die Deutungshoheit

Offen bleibt die Frage nach der Deutungshoheit. Und die liegt, finde ich, bei denen, um deren Kultur es geht, um deren Geschichte es geht. Weil sie mehr über die Kultur und Geschichte wissen und, weil sie wissen, welche Bücher und Filme zu Rassismus führen, den sie erleben.

Es gibt nicht die woke Community

Der "woken Community" eine "aggressive Rhetorik" vorzuwerfen ist dann fast schon ironisch, wenn man bedenkt, dass es der Community nur darum geht, auf eine aggressive Sprache aufmerksam zu machen. Und natürlich gibt es auch nicht die woke Community – es gibt Betroffene, die verstehen, dass es schwierig sein kann, zu erkennen, dass man  sich unbeabsichtigt rassistisch verhalten hat, die geduldig erklären, und es gibt Betroffene, die müde sind und dafür nicht mehr die Kraft haben, und es gibt Menschen, die das Thema nutzen, um sich zu profilieren, nicht weil es ihnen wirklich wichtig ist, sondern weil es sich so gut anfühlt, moralisch überlegen zu sein, und welche, die sich im Ton vergreifen und welche die abwägen und nachdenken und sich informieren und die Erkenntnisse dann teilen. Und einige sind unsympathisch und anstrengend und andere wohlwollend und diskussionsbereit.

Sich selbst hinterfragen

Dass viele Menschen unbeabsichtigt rassistisch sind und vieles "nicht böse meinen" ist ja ein guter Startpunkt. Nur muss man, wenn man erfährt, was man bei anderen auslöst, dem reflexartigen Verteidigen widerstehen und die Möglichkeit ergreifen, sich zu hinterfragen, sich mit anderen Kulturen zu beschäftigen, vielleicht sogar als Person zu wachsen.

Diskussionen sind großartig, aber dann müssen sich beide Seiten informieren und vielleicht muss man auch erkennen, dass die heile Welt, in der man sich als "Indianer" verkleiden oder das N-Wort sagen konnte, gleichzeitig eine war, in der man andere ausgegrenzt hat – und dass das keine schöne Erkenntnis ist und ein Auseinandersetzen Zeit kostet und Energie und Selbsteingeständnisse, aber dass man am Ende dadurch nur gewinnen kann.

Fiktive Geschichten wird es (zum Glück) weiter geben!

Es ist auch nicht das Ziel, Fiktion zu verbieten und nur noch Sachbücher zu erlauben. Es geht darum, sich bewusst zu machen, aus welcher Perspektive wir welche Geschichten erzählen, welches Bild wir damit erzeugen und was das für andere bedeutet. Es geht darum, wie wir mit der Kultur und Geschichte von Minderheiten rücksichtsvoll umgehen, die heute mit uns zusammenleben. Deshalb passt auch der Vergleich zu Asterix und Obelix oder zu Büchern über Hexen nicht, die es damals bei der Hexenverbrennung nämlich (und das ist vielleicht überraschend) gar nicht wirklich gab. Es geht um das Verdrehen von Geschichte, darüber, sich eine Kultur zu eigen zu machen, davon zu profitieren und gleichzeitig die auszuschließen, die sie heute leben. Es lohnt sich auch, sich damit auseinanderzusetzen, wie die jeweiligen Geschichten, die da als Beispiel ins Feld geführt werden, von den vermeintlich Betroffenen aufgenommen werden. "Asterix und Obelix" werden zum Beispiel auch in Italien gelesen. Und bei Märchen besteht keine Verwechslungsgefahr mit der Realität. Eine Prinzessin, die durch einen bösen Fluch in einen hundertjährigen Schlaf verfällt, hätte es in der Vergangenheit nie geben können, aber die Geschichte, die in Winnetou erzählt wird, malt ein romantisiertes Bild einer grausamen Geschichte. Sie nimmt sich Bilder und Figuren, die es vielleicht wirklich so hätte geben können und erzählt mit ihnen eine gänzlich andere Geschichte. Und wo ist da das Gegengewicht? Kinder sehen Yakari, besuchen die Karl-May-Festspiele und sehen im Kino "Der junge Häuptling Winnetou", erfahren aber im Zweifel in der Schule nicht unbedingt etwas über die Geschichte der Native Americans. Was hängen bleibt, ist also dieses romantisierte Bild. Während in anderen Geschichten die Trennung von Fiktion zur echten Welt klarer wird.

Meinungsfreiheit in Gefahr?

Wir sind noch weit von einer Diskussion auf Augenhöhe entfernt. So muss auch niemand Angst haben, dass die Menschen, die "Winnetou" verteidigen, zu sehr eingeschüchtert werden. Wenn man die vielen Kommentare liest, die Videos ansieht, die Fernsehberichte sieht, kommt bei mir nicht die Sorge auf, dass die Menschen, die mit "Meinungsfreiheit" verletzende Inhalte und Sprache verteidigen, nicht genug gehört werden. Aber auch die nachvollziehbaren Bedenken finden ihren Platz und werden gehört.

Die eigenen Irrtümer mitdenken

Widerstehen wir doch einmal dem Drang, uns direkt verteidigen zu wollen und nehmen uns ein paar Tage Zeit, um etwa den Instagram-Account @natives_in_germany anzusehen und vielleicht noch ein Buch zu lesen – eines von Tupoka Ogette zum Beispiel oder "Sprache und Sein" von Kübra Gümüşay. Und dann erkennen wir langsam, was wir alles unbeabsichtigt sagen und tun. Und, dass wir alle noch so viel zu lernen haben (großartig!). Ich werde hier ganz sicher auch einen nicht ganz passenden Vergleich gebracht oder ungewollt jemanden verletzt haben. Die Möglichkeit der eigenen Irrtümer muss man immer mitdenken – dann ist es auch nicht eine so große Überraschung, wenn andere sie erkennen und man dafür kritisiert wird. Ich habe mich früher als Kind auch als Indianer verkleidet und ich habe das N-Wort benutzt. Heute erkenne ich, dass ich damit Rassismus reproduziert habe, und morgen werde ich mich vielleicht darüber ärgern, hier "Indianer" geschrieben zu haben oder darüber, dass ein Abschnitt zu überheblich klingen könnte und nicht lösungsorientiert genug ist oder dass hier mein Kommentar steht und nicht der eines Native Americans. Ich weiß, wie viele Wissenslücken ich mit mir herumtrage – vielleicht wird es einfacher, wenn wir uns das alle eingestehen. So, wie es der Ravensburger Verlag gemacht hat. Und wenn Sie in meinem Text einen kleinen oder großen Denkfehler sehen, freue ich mich, wenn wir hier darüber diskutieren können – informiert und einander zugewandt.