Verlag The Gentle Temper

Die Seen-Sammler

20. August 2020
von Nils Kahlefendt

Warum in die Ferne schweifen? Statt exotischer Strände lockt in Corona-Zeiten die Kiesgrube um die Ecke. Was die Reise-Profis Slow-Travel nennen, hat dem kleinen Berliner Verlag The Gentle Temper ungeahnten Erfolg beschert.  

Im Sommer der Pandemie lockt die Kiesgrube mit dem kühlen, klaren Wasser im Wald nebenan stärker als die Kanaren oder Malediven. „Slow Travel“ ist das Buzzword der Stunde. In einer Zeit, wo Fernreisen eher keine so gute Idee sind, und man, schon um einem möglichen Lagerkoller zu entgehen, Kind und Kegel schnappt, um wieder in der eigenen Region auf Entdeckungstour zu gehen, hat sich die Buchreihe „Take Me to the Lakes“ des kleinen Berliner Startup-Verlags The Gentle Temper zu einer Art geheimem Bestseller entwickelt.

An eine Reihe war ebenso wenig zu denken wie an einen Verlag, als Karolina Rosina-Meisen und Nils Kraiczy 2016 begannen, die schönsten Seen und Badestellen in und um Berlin zu versammeln, Fotos zu machen, Texte zu schreiben. Es schien ein Projekt von Freunden für Freunde. Als die lange Liste schließlich von 140 Seen auf 50 eingedampft war, wussten die beiden: „Daraus wollen wir etwas machen.“

Kraiczy ist Betriebswirtschaftler, Rosina hat Kommunikationsdesign und Internationales Management studiert - als Freie hatte sie in diversen Agenturen Buchprojekte an der Schnittstelle zu Verlagen begleitet. Die beiden waren sich rasch einig, ihre Idee in eigener Regie umzusetzen. Im November 2016 gründeten sie in Berlin ihren Verlag „The Gentle Temper“ („Das sanfte Gemüt“). „In meiner Design-Zeit war ich öfter in die strategische Begleitung von Marken involviert, wozu auch Naming-Prozesse gehörten“, erklärt Rosina. „Ich hatte den Namen schon lange in der Schublade, und als dieses Projekt aufkam, dachten wir: Das passt ziemlich perfekt zu dem, was wir machen und zeigen wollen.“

 

"Take Me to the Lakes"

Im Frühjahr 2017 erschien, komplett selbst finanziert und produziert, das erste Trade-Paperback, die „Berlin Edition“ von „Take Me to the Lakes“ – mit hohem Nutzwert, aber auch stylish genug, um urbane Hipster anzusprechen, die sonst zu Tyler Brûlés „Monocle“ oder den Kurzreisebänden der Süddeutschen („Ein perfektes Wochenende“) greifen. Als die erste Auflage nach nur anderthalb Monaten ausverkauft war, beschlossen Rosina und Kraiczy nicht nur nachzudrucken, sondern eine ganze Reihe zu entwickeln. Inzwischen erschienen die blauen Seen-Bücher zu München, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Leipzig.

Und da aus Tagesausflügen nicht selten Wochenendtrips werden, wurde die graue „Weekender“-Reihe angebaut, in denen man die schönsten Unterkünfte in Wassernähe findet – vom liebevoll sanierten Bauernhof bis zu Architektur-Ikonen wie dem „Schwarzen Haus“ in der Uckermark. Dazu wurde, nach und nach, ein eigenes Vertriebsnetz mit eigener Logistik und Lagerhalle in Essen aufgebaut. „Die ganze Wertschöpfungskette liegt bei uns“, sagt Rosina, „das erlaubt uns eine hohe Flexibilität.“

 

The Gentle Temper im Buchhandel

Auch den Buchhandel wollten Rosina und Kraiczy von Anfang an einbeziehen. Mit Band eins zogen sie anfangs in ihre Berliner Lieblingsbuchhandlungen, inzwischen ist es mit einigem Schweiß und klassischer Vertriebsarbeit gelungen, in Buchhandlungen und Concept-Stores der Zielregionen gut sichtbar zu sein – in Leipzig etwa bei Rotorbooks, Hafen, Tschautschüssi und der Buchhandlung Südvorstadt. Auf der eigenen Homepage gibt es regelmäßig aktualisierte Lake-Stories; Facebook, Twitter und vor allem Instagram (mit den Kanälen TheGentleTemper sowie  Takemetothelakes) und vergrößern die Fangemeinde stetig. Dennoch wollen die Neu-Verleger eher als sympathischer Indie wahrgenommen werden – und nur organisch wachsen. „Wir wollen nicht der nächste Marco Polo werden“, sagt Rosina lachend.

Eine für dieses Jahr, das fünfte Verlagsjubiläum immerhin, geplante neue „Berlin Edition“ 2.0 wird ebenso wie ein neuer Berlin-„Weekender“ komplett nach 2021 verschoben. Geplant ist ein Schwarzwald-Band, 2022 möchte man mit Seen in der Schweiz und Südschweden nachlegen. Fürchten Rosina und Kraiczy nicht manchmal, dass ihre liebsten Geheimplätze bald von jungen Lifestyle-Trendsettern überrannt werden? „Hin und wieder bekommen wir sogar die Bitte, einen bestimmten See nicht zu nennen“, lacht Karolina Rosina. „Ich glaube aber, dass prinzipiell jeder Zugang zu diesen Plätzen haben sollte. Und hoffe, dass unsere Zielgruppe sich draußen in der Natur vernünftig verhält. Bei so viel Auswahl an Seen verteilt sich’s doch ganz gut.“