Queere Literaturszene

"Mit queerer Literatur ist offensichtlich endlich alles möglich"

27. Oktober 2022
von Charline Vorherr

Mit Kim de l'Horizon hat erstmals eine non-binäre Person den Deutschen Buchpreis gewonnen. Hetze im Internet und gleichzeitig die Solidarität mit de l'Horizon sind gewaltig. Was bedeutet die Preisvergabe für die queere Literaturszene, deren Veröffentlichungen häufig als Nischenliteratur betrachtet werden? Und was muss und kann die deutsche Buchbranche an allen Enden der Wertschöpfungskette nun tun?

Andrea Schmidt, Verlegerin im Verlagshaus Berlin

Durch Kims Bekanntheit wird der Blick auf eine diverse Gesellschaft gelenkt, die bisher "an den Rändern" immer noch für Sichtbarkeit kämpft. Wir brauchen Rolemodels wie Kim de l'Horizon.

Andrea Schmidt, Verlagshaus Berlin

Was bedeutet die Auszeichnung für die queere Literaturszene?

Erst einmal denke ich, dass ein Buch nicht nur aufgrund von politischen Gründen mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wird, sondern zuerst aus literarischen Gründen. Natürlich sind Autor*in und Werk miteinander verknüpft und ich freue mich, wenn durch den Preis bisher marginalisierten Personen eine Sichtbarkeit und eine Stimme verliehen wird. Kim als Autor*in & Performer*in steht für eine queere Literatur, die im Literaturbetrieb oftmals noch exotisiert oder stereotypisiert wird.

Durch Kims Bekanntheit wird der Blick auf eine diverse Gesellschaft gelenkt, die bisher "an den Rändern" immer noch für Sichtbarkeit kämpft. Deshalb ist dieser Preis auch aus politischen Gründen sehr wichtig für die Pluralisierung der Gesellschaft und das politische Wirken von Literatur.

Was kann und muss die deutsche Buchbranche nun tun?

Verortungen wie gender, race oder class sollten keine Rolle bei Verlagsentscheidungen für oder gegen Bücher spielen. Immer noch marginalisierten Personen sollte es nicht allein überlassen werden, eine Stimme und damit eine Sichtbarkeit in ihrer Profession zu bekommen. Wir brauchen keine Marketing-Schubladen wie "Frauenliteratur" oder "Queere Literatur", wohl aber politisierende und empowernde Attribute für eine Literatur, die als engagiert, kritisch und queer lesbar ist.

Wir brauchen Rolemodels wie Kim de l’Horizon. Literatur sollte die Vielfalt der Gesellschaft abbilden und nicht die ewig gleichen Geschichten wiederholen. Ich denke, dass müssen wir uns als Verleger*innen & Buchverwerter*innen immer wieder bewusst machen und mutig Entscheidungen treffen, die nicht vom Marketing-Denken beeinflusst sind.

Donat Blum, Autor und Herausgeber von "Glitter"

Es darf auf keinen Fall zum Kurzschluss kommen, dass eine Auszeichnung einer einzigen non-binäre Person den Bedarf an queerer Literatur abdeckt.

Donat Blum

Es ist ein außerordentlich motivierendes und empowerndes Signal für alle deutschsprachigen, queeren Autor*innen. Mit queerer Literatur ist offensichtlich endlich alles möglich. Kein_e Veranstalter*in, kein Verlag kann sich mehr hinter der fadenscheinigen Begründung queere Literatur gehe nur queere Menschen etwas an wegducken.

Sowohl die Branche als auch wir queeren Autor*innen müssen jedoch der Versuchung widerstehen, zu denken, jetzt sei alles gut. Konkret heißt das, dass es auf keinen Fall zum Kurzschluss kommen darf, dass eine Auszeichnung einer einzigen non-binäre Person den Bedarf an queerer Literatur abdeckt. Queere Literatur gehört genau dahin, wo sich Kim und wir alle, die diese Auszeichnung mit jahrelanger (Lobby-)arbeit mit ermöglicht haben, hingekämpft haben: in die Mitte der Gesellschaft und des Literaturbetriebes. Und dort soll sie nun endlich auch bleiben. Dafür muss die Literaturbranche schleunigst Nachhilfe darin nehmen, wie mit queerer Literatur umgegangen, darüber geschrieben und gesprochen und wie queere Autor*innen unterstützt werden können – nicht zuletzt im Umgang mit dem Hass, der mit einem Mehr an Öffentlichkeit regelmäßig über uns Queers hereinbricht. 

Es ist vor allem auch ein Akt, der Queers Mut macht, weiterzuschreiben, weiterzukämpfen. Es ist ein großer Erfolg für die deutschsprachige Literatur und für queere Sichtbarkeit.

Alexander Graeff, Autor

Es ist vor allem von großer Bedeutung für die Literaturszene, denn in repräsentationspolitischer Hinsicht ist diese Preisverleihung ein wichtiger Akt. Sie zeigt, dass nonbinäre Personen im Literaturbetrieb nicht nur arbeiten, sondern auch für ihre Arbeit mit etablierten Preisen ausgezeichnet werden (können). Es ist vor allem auch ein Akt, der Queers Mut macht, weiterzuschreiben, weiterzukämpfen.

Es ist ein großer Erfolg für die deutschsprachige Literatur und für queere Sichtbarkeit. Und zugleich erfordert dieser Erfolg den kritischen Blick, denn eins sollte nicht vergessen werden: Kim und DuMont haben die queere Literatur nicht erfunden! Es gibt Verlage, die seit Jahrzehnten queere Literatur veröffentlichen, die aber von Medien und Kritik nie wahrgenommen wurden. Diese Verlage, aber vor allem die Autor*innen, sollte man mitdenken in dieser neuen, queeren Sichtbarkeit.

Die Buchbranche, insbesondere Verlage, sollten das Ereignis zum Anlass nehmen, ihre eigenen Werthorizonte für ihre Buch- oder Literaturveranstaltungsprogramme zu diskutieren. Erst intern, dann ihre Haltungen offen legen. Dazu gehört auch, die Frage nach der Rolle von Geschlecht in Literatur und literarischen Inszenierungen in Medien und Branchenpolitik. Es wäre eine einmalige Chance, auch Leser*innen zu überzeugen, dass aller Hass gegen jene, die von sozialen Normen abweichen, immer mit Sprache beginnt.

Jim Baker, Querverlag

Für die deutschsprachige Buchbranche ist die beste Reaktion auf das, was Kim de l’Horizon gerade an Hass und Drohung erlebt, ein solidarischer Schulterschluss.

Jim Baker, Querverlag

Es ist ein grandioser Beitrag zur Sichtbarkeit nicht-binären Lebens in der deutschsprachigen Literaturszene, denn der diesjährige Deutsche Buchpreis bedeutet für queere Lesende sowie Schreibende ein Stück Wertschätzung und Anerkennung innerhalb eines sonst schon eher wertkonservativen Literaturkanons.

Für die deutschsprachige Buchbranche ist die beste Reaktion auf das, was Kim de l’Horizon gerade an Hass und Drohung erlebt, ein solidarischer Schulterschluss, indem wir uns demonstrativ für Meinungsfreiheit und demokratische Vielfalt einsetzen und uns z.B. nicht mit dem äußerlichen Erscheinungsbild der Person beschäftigen, sondern mit ihrer literarischen Stimme kritisch auseinandersetzen.

Allerdings sei die kritische Frage erlaubt: Würde sich die große Öffentlichkeit für de l‘Horizons wortgewaltiges Romanwerk interessieren, das nun mal außerhalb des heterosexuellen Erfahrungshorizonts agiert, hätte der Titel den Preis nicht bekommen? Eines schönen Tages, wenn eben dieser Zustand eintritt, dann sind wir ein Stück weiter. Dennoch: Schön, einfach schön.

Lann Hornscheidt, w_orten & meer

Solidarität zeigen. Jegliche Form von direkter Gewalt skandalisieren - und nicht normalisieren durch Schweigen und Kleinreden. An der Seite stehen von Kim de l*Horizon.

Lann Hornscheidt, w_orten & meer

Die Preisverleihung ist eine große Würdigung einer grandiosen vielschichtigen Prosa, die zudem eine genderqueere Person fiktionalisiert und die Herausforderungen von intergenerationellen Traumata und dem Abarbeiten an der Gewalt von Zweigeschlechtlichkeit, Sexualitäts- und Körpervorstellungen und -normen, Heteronormativität beeindruckend literarisch behandelt.

Der Roman eröffnet zudem auch sprachlich einen Raum jenseits von Zweigeschlechtlichkeit und fordert in seinen literarischen wie wörtlichen Neuschöpfungen konventionelle Denk- und Leseweisen heraus. Dies ist damit auch eine Anerkennung von der Vielschichtigkeit von genderqueerem Schreiben und ihrem möglichen Impact auf Gesellschaft.

Was muss die deutsche Buchbranche nun tun? 

In Bezug auf die direkten Gewaltaussprechungen und weitergehenden Gewaltandrohungen gegen Kim de l*Horizon: Solidarität zeigen. Jegliche Form von direkter Gewalt skandalisieren - und nicht normalisieren durch Schweigen und Kleinreden. An der Seite stehen von Kim de l*Horizon.

Darüber hinaus: Räume schaffen, die es genderqueeren Texten ermöglichen, als solche publiziert zu werden und sich nicht an Normen anzupassen, die sie gerade herausfordern; Preise schaffen, die diskriminierungskritisch positioniert sind, Stipendien, Publikationsmöglichkeiten. Die eigene verlegerische Normalität neu und diskriminierungskritisch reflektieren.

Joachim Bartholomae, Salzgeber Buchverlage

In den USA konnte schon vor 60 Jahren der Schwarze schwule Autor Baldwin einen Bestseller landen. Jetzt sind wir endlich wieder auf Augenhöhe mit der amerikanischen Literaturkritik.

Joachim Bartholomae

Die Veröffentlichung des "Blutbuchs" von Kim de l'Horizon ist ein Glücksfall, weil hier so viele Dinge gleichzeitig geschehen:

Zum einen hat der Verlag die "Queerness" viel stärker betont, als das notwendig gewesen wäre, denn seien wir mal ehrlich: im Grunde ist das ein ziemlich konventioneller Roman. Dumont wollte offenbar provozieren, und dafür bin ich dem Verlag sehr dankbar. Ohne die biografischen Hinweise zu dieser Schweizer Krawallschachtel hätte die literarische Dimension dieses wirklich preiswürdigen Buchs stärker im Vordergrund gestanden, aber jetzt muss sich der deutschsprachige Buchmarkt fragen, ob man die Eier bzw. Eierstöcke hat, auch einmal einer Provokation zum Erfolg zu verhelfen, statt immer nur Büchern über Bienen.

Zum anderen hat die Jury des Deutschen Buchpreises das getan, was längst überfällig war: Ein Buch mit queerer Vermarktung rein literarisch wahrzunehmen. In den USA konnte schon vor 60 Jahren der Schwarze schwule Autor Baldwin einen Bestseller landen. jetzt sind wir endlich wieder auf Augenhöhe mit der amerikanischen Literaturkritik, und das macht mir Hoffnung. Jetzt müssen nur noch die Buchhändlerinnen mitziehen!

Wolfram Alster, MAIN-Verlag

Im Gros der deutschen Buchhandlungen sucht man queere Angebote vergeblich. Dabei existiert ein Bedarf. 

Wolfram Alster, MAIN Verlag

Die Frage sollte vielleicht eher lauten: Was bedeutet die Verleihung des Preises an Kim de l’Horizon für die heteronormative Literaturszene? Da wurde ein Werk ausgezeichnet, welches unter normalen Umständen wohl kaum in die Regale deutscher Buchhandlungen gefunden hätte. Eine provokante, intime, verstörende Biografie, die eindeutig polarisiert.

Für die queere Literaturszene bedeutet die Ehrung von ›Blutbuch‹, für einen Moment sichtbarer zu sein, als es üblicherweise der Fall ist. Es bedeutet vielleicht sogar einen Schritt hin zu mehr Chancengleichheit im deutschsprachigen Buchhandel. Weil einmal mehr über den Tellerrand geblickt wurde.

Im Gros der deutschen Buchhandlungen sucht man queere Angebote vergeblich. Dabei existiert ein Bedarf. Queere Literatur ist ein wachsender, ernstzunehmender Markt. Denn es sind bei weitem nicht nur queere Lesende, die sich durch ein solches Angebot angesprochen fühlen. Ganz im Gegenteil.

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