Lektorin Katharina Schlott

Nachruf auf Anne von Canal: "Du warst eine leidenschaftliche Erzählerin"

26. Oktober 2022
von Börsenblatt

Die Autorin und Übersetzerin Anne von Canal ist am 20. Oktober im Alter von 49 Jahren gestorben. "Seit jenem Donnerstag vergeht kein Tag, an dem die Geschichten, die sich um Dich ranken, nicht lebendiger geworden wären", schreibt Katharina Schlott, Senior-Lektorin bei Rowohlt. Ein sehr persönlicher Nachruf. 

Anne von Canal

Anne von Canal

Von Deinem Tod erfuhr ich auf der Rolltreppe der Frankfurter Buchmesse in Halle 3. Obwohl ich um Deine schwere ALS-Erkrankung wusste, erwischte es mich kalt. Ich lief zu Kiepenheuer & Witsch, zu Königsfurt-Urania, ich lief zu dem Verlag, in dem ich selbst arbeite. Ich habe nach Menschen gesucht, mit denen Du genauso verbunden warst wie mit mir, und sie auf Anhieb gefunden. Genauso gut hätte ich ins Agents‘ Center, zu Lübbe oder zu den Skandinaviern rennen können. Jedes Jahr warst Du auf der Messe, auch 2021 noch, als Du schon nicht mehr gehen konntest, zusammen mit Heikko Deutschmann, um gemeinsam das Erscheinen Eures Buches „I get a bird“ zu feiern. 

Letzten Donnerstag bist Du im Alter von 49 Jahren in Winningen an der Mosel, wohin Du vor mehr als einem Jahrzehnt von Hamburg aus zogst, weil Dein Mann Winzer war und dort ein Weingut hatte, gestorben. 

Mit Hamburg bliebst Du immer verbunden: Dort lebten viele Deiner Freunde, dort war Dein Verlag, mare.

Du warst keine schnelle Schreiberin. Bevor Du ein Buch zu Papier brachtest, vergingen Jahre der einsamen Vorbereitung. Und selbst als Du wusstest, was es werden sollte, schriebst Du langsam.

Seit jenem Donnerstag vergeht kein Tag, an dem die Geschichten, die sich um Dich ranken, nicht lebendiger geworden wären. Alle, die Dich kannten, können das sofort erklären. (Dafür muss man noch nicht einmal das fabelhafte „I get a bird“ gelesen haben, wo man die theoretische Begründung dafür erhält): Geschichten haben Dich am Leben gehalten. Du warst eine leidenschaftliche Erzählerin, und Du hast eine Fülle von Geschichten aufgeschrieben, die von einer beeindruckenden Vielfältigkeit zeugen. Damit hast Du Dich, auch wenn Dir nichts ferner lag, beständig selbst dupliziert. Vielleicht ist es das, was eine gute Autorin unsterblich macht.

Du warst keine schnelle Schreiberin. Bevor Du ein Buch zu Papier brachtest, vergingen Jahre der einsamen Vorbereitung. Und selbst als Du wusstest, was es werden sollte, schriebst Du langsam. Du hast Dir kein überflüssiges Wort erlaubt, Du Meisterin der klaren Sprache, und Du warst Dir selbst die strengste Kritikerin.

Nicht nur für Reisen hattest Du ein Faible, vor allem hattest Du eines für Zeitreisen. Du hast mit Deinen Geschichten Raum und Zeit außer Kraft gesetzt.

Dein Humor? Dafür muss man nur die Geschichte lesen, die Du zum 100-jährigen Bestehen des Rowohlt Verlags beisteuertest. Darin erzählst Du von dem Gedankenexperiment, Ernst Rowohlt besuche nach 100 Jahren noch einmal das Reinbeker Verlagsgebäude. Er staunt nicht schlecht, dass die Druckereien (der Kopierraum) mittlerweile in den Verlagen selbst angesiedelt zu sein scheinen, und wundert sich, warum man bloß Frauen in den Büros antreffe. Jemand verweist ihn dann ins Sachbuch, da „sind ein paar mehr Männer“. 

Überhaupt hattest Du einen frechen Drang, Tote auferstehen zu lassen. In Deinem persönlichen Reiseführer „Mein Gotland“ führtest Du gar ein fiktives Gespräch mit Ingmar Bergman. 

Nicht nur für Reisen hattest Du ein Faible, vor allem hattest Du eines für Zeitreisen. Du hast mit Deinen Geschichten Raum und Zeit außer Kraft gesetzt. Warum hättest Du sonst Deinen zweiten bei mare erschienenen Roman, in dem Du eine Polarforscherin (genau wie Dich selbst) in die Antarktis schicktest, „Whiteout“ nennen sollen - nach dem meteorologischen Phänomen, das das Verschwinden des Horizonts zur Folge hat?

Jemand, der sich das Außerkraftsetzen von Raum und Zeit zum Daseinsprinzip macht, der verschwindet nicht. Das gilt an erster Stelle für Dich selbst.

Zweimal waren wir gemeinsam in Rom. Wir bewohnten eine Unterkunft nahe dem Campo dei Fiori. Innerhalb von 24 Stunden warst Du mit den Sehenswürdigkeiten durch. Nicht, dass Du Dich gelangweilt hättest. Aber Dich zog es woanders hin: Du wolltest in die Peripherie, an Schauplätze aus italienischen Romanen, dahin, wo Römerinnen und Römer wirklich leben, arbeiten, lieben oder sterben. In eine Wäscherei in der Via Prenestina, in die Gegend um den Fungo, zum cimitero acattolico. Genauso verhielt es sich mit Deinem Verstand: Das Selbstverständliche hast Du mit enormer Auffassungsgabe blitzschnell erfasst, dann wolltest Du weiter, an entlegene Orte, Nischen erkunden und Dich ihnen aussetzen. Und das wolltest Du niemals alleine tun, sondern immer zusammen mit einem Freund oder einer Freundin. Oder eben mit einer Deiner Romanfiguren: mit Laurits vor die finnische Insel Utö, mit Hanna in die endlose Weite des Meeres, mit Jana und Johan in die norddeutsche Provinz.

Jemand, der sich das Außerkraftsetzen von Raum und Zeit zum Daseinsprinzip macht, der verschwindet nicht. Das gilt an erster Stelle für Dich selbst.