Was ist "tentakuläres Erzählen"?

Moderatorin Julia Westlake dankte dem Publikum, das trotz „typisch Hamburger tropischer Verhältnisse“ so zahlreich ins Literaturhaus gekommen war. Die Veranstaltung war schon vor Wochen ausverkauft. 

Rainer Moritz ergänzte: „Ein großer Dank geht an die Autor:innen für ihr Erscheinen – es ist ja immer auch eine „Zumutung“, wenn man jahrelang an einem Buch gearbeitet hat und dann nur 20 Minuten zur Verfügung  hat – 10 Minuten lesen und 10 Minuten Gespräch.“

Im ersten Gespräch des Abends wurde der Begriff „autofiktional“ eingeführt, der sich bei den folgenden Gesprächen noch mehrfach wiederholen sollte. „Der Tod meiner Mutter war Anlass, autofiktionale Erweiterungen um meine früheren Erzählungen in 'Das Mädchen' zu setzen. Der Anspruch an Sprache ist bei einer autofiktionalen Gattung sehr hoch, der Text gehorcht nicht nur dem Leben.“, so Klüssendorf.

Der in Berlin lebende Autor schreibt in hebräischer und in deutscher Sprache. Sein Debüt „Birobidschan“ über das gescheiterte Experiment, eine jüdisch-sozialistische Autonomie in Sibirien zu etablieren, sei kein historischer Roman, sondern eine rein fiktive Erzählung ­ unter der Regie eines nicht nur unzuverlässigen, fast schon „sadistischen“ Erzähler. Es gebe mehrere Arten, Situationen im Roman zu interpretieren – zum Vergnügen der Leser:innen, ergänzte Moderatorin Westlake.

„Ein Zug ist ein Katalysator für seelische Prozesse. Je mehr die Hauptfigur Baran sich während der Zugreise entfernt, desto mehr wird ihm einiges über seine Liebe klar, während die Landschaft vorbeifließt.“ Der Zug macht einen Rhythmus: „Vorbei, vorbei, vorbei ….“, beschrieb Overath.

Mit dem ersten Roman „Nicht wie ihr“ war Schachinger 2019 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises verzeichnet. Mit dem zweiten Roman ist er wieder im Rennen um den renommierten Preis. In „Echtzeitalter“ ist Hauptfigur Till im Biotop einer elitären Privatschule dem knallharten Diktat eines Lehrers ausgeliefert. Während der Lesung geht es vor allem um das Wort „Etikettessen“ – ein Wort mit sehr viel Hintersinn.

„Was hat Sie getrieben?“ fragte Rainer Moritz Thomas Oláh, der mit „Doppler“ sein Romandebüt vorlegte, der in der langen Tradition des Dorfromans stehe, so Moritz. „Ein Doppler meint in Österreich eine 2-Liter-Weinflasche,“ erklärt Oláh, „die allerdings in die modernen Kühlschranktüren nicht hineinpasst“. Der Roman steckt voller Variationen und Miniaturen über doppelte Wahrnehmung, so Oláh.

Die in Frankreich geborene, in Deutschland lebende Sylvie Schenk hat ihren Roman „Maman“ auf den Spuren der Frauen in der eigenen Familiengeschichte geschrieben. „Es ist kein feministisches Buch, es ist mehr eine Hymne an die Frauen dieser Epoche während der Weltkriege.“

Für die Buchhandlung im Literaturhaus bot Stephan Samtleben die Bücher mit dem Büchertisch an.

Eine deutschstämmige Familie steht 1942 in Südtirol vor der Entscheidung, im faschistischen Italien zu bleiben oder ins nationalsozialistische Deutschland auszuwandern. Das eigentliche Thema ist für Mall nicht der Verlust der Heimat, sondern der Verlust eines Bruders – der vermutlich Opfer eines Euthanasieprogramms wurde.

Wenn Tintenfischarme Geschichten erzählen … „Wie geht das, sich verwandt zu machen mit diesen Tieren?“, fragte Rainer Moritz. „Wenn ich über einen Tintenfisch schreibe, schreibe ich auch darüber, warum ich das schreibe. Und als ich erfuhr, dass in den Tentakeln kleine Gehirne sind, war alles klar!“, so Kieser. Das zielt in ein „tentakuläres Erzählen“.

Die Autorin begleitete den NSU-Prozess und „hatte das Bedürfnis, das als einen nicht abgeschlossenen Prozess zu erzählen“, die Zeugenschaft mit einer Perspektive des „Wir“ umzusetzen.

Ein Vater versucht seine Tochter aus den Fängen des IS zu befreien. Er lernt, dass er ein schlechter Vater war, er muss sich ihr in einem unbekannten Gebiet suchen. Reisen als Lesen – er muss die Zeichen deuten, um sich seiner Tochter wieder anzunähern.

Texte als Prisma: „Ich wollte eine Stimmung treffen, aber ich erzähle nicht die Geschichte aller Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind. Man kann niemand als nur gut oder nur böse bezeichnen.“ - so beschreibt Gneuß ihren Roman um die 16jährige Karin, deren Freund bei der Ausreise nach Tschechien geschnappt wurde.

Die Veranstaltung wird in Kooperation mit der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins durchgeführt und von den  Hamburger Institutionen ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius sowie der Kunst- und Literaturstiftung Petra und K.-H. Zillmer unterstützt.. 

Ein neues Buch eines berühmten Autors ist plötzlich da – ohne dass seine Fans es mitbekommen haben. Magie? „Wir können uns nicht trauen – habe ich etwas wirklich erlebt oder einen Film darüber gesehen? Wir haben uns im Autoren-Backstage darüber unterhalten, wie falsch unsere Wikipedia-Einträge sind.“, berichtet Sterblich.

Ein erfolgreiches Debüt, das schon auf der Bestsellerlist angekommen ist. In einer armen Familie mit ungarischen Wurzeln prallen Lebensentwürfe der Mütter und Töchter aufeinander.

Die Abwesenheit eines Vaters: „Wir erwarten von unseren Eltern Antworten und stellen fest, dass wir uns diese Antworten selbst geben müssen“, so Öziri. „Ich versuchte weniger die Figuren zu schreiben, als ihnen zu folgen“

Eine Familie erlebt das Ende der DDR: „Die Erzählung ist nicht gradlinig, es gibt essayistische Teile, dennoch ist es ein Roman – denn er umschreibt eine eigene komplexe Welt“

Frühaufsteher Tim Staffel war nach fast sechseinhalb Stunden Programm als letzter dran. Nach vielen Jahren mit Hörspielen und Drehbüchern hat er mit „Südstern“ wieder einen Roman geschrieben. „Ich wollte eine große Liebesgeschichte schreiben – und der Song ‚Junimond‘ von Rio Reiser ist der Song dazu.“

Die Eindrücke des Abends wirken nach - Literatur bleibt im Gespräch. Zum Reinlesen halten viele Buchhandlungen die Longlist-Leseproben für ihre Kunden vor.