Geschwister-Scholl-Preis 2023

Minutenlanger Applaus für David Van Reybrouck

30. November 2023
von Andreas Trojan

Der Schriftsteller und Historiker David Van Reybrouck hat am 28. November in München den Geschwister-Scholl-Preis erhalten. Ein Bericht von der Preisverleihung.

Zum 44gsten Mal wurde in der Großen Aula der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität der Geschwister-Scholl-Preis vergeben – und zwar vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern e.V. und der Landeshauptstadt München. Die Dotierung beträgt 10.000 Euro. Der diesjährige Preisträger ist der 52jähriger flämisch sprechender belgische Autor, Historiker und Archäologe David Van Reybrouck. Die Auszeichnung erhält er für seine Publikation "Revolusi. Indonesien und die Entstehung der modernen Welt" (Suhrkamp). "Revolusi" bedeutet auf Indonesisch "Auflehnung", "Revolution". Das Buch selbst lässt sich als Monographie der Entstehung eines Staates und seines Unabhängigkeitskampfes gegen die niederländische Kolonialmacht bezeichnen. Reybrouck schildert die Kolonialisierung durch die Niederlande, die japanische Besetzung und die Befreiung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Profiteure des Kolonialregimes kommen ebenso zu Wort wie Widerstandskämpfer. Filmisch inszenierte Textbilder und weite Spannungsbögen beherrschen das erzählte Geschehen. Reybroucks Methode der Oral History werden zu Erzählungen von Zeitzeugen umgestaltet.

Aber was hat das mit Sophie und Hans Scholl, und mit dem Widerstandskreis der "Weißen Rose" zu tun? Die Jury-Begründung geht auf den Widerstandsgeist indonesischer junger Menschen ein, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um gegen die koloniale Vorherrschaft zu kämpfen. Zudem setze der Autor "Indonesierinnen und Indonesiern ein literarisches Denkmal, die sich als Studierende in den Niederlanden während der deutschen Besatzung für den Schutz von verfolgten Jüdinnen und Juden einsetzten." Klaus Füreder, Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Bayern, hob die große und langwierige Arbeit des Autors hervor. Besonders die Gespräche, die "letztlich in über 185 Interviews resultieren, geführt in über 20 Sprachen teilweise in einem zweifachen Übersetzungsprozess".

Und dann hob Füreder das Buch hoch und sprach, wie er meinte, als Buchhändler: Das Werk sei nicht nur ein Denkmal für die zum Teil verstorbenen Zeitzeugen und indonesischen Freiheitskämpfer, sondern sei ebenso wichtig die Öffentlichkeit in und außerhalb der Niederlande, die "mit ihnen einen Chronisten dieses Formats gefunden haben". Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter machte die Politik ehemaliger Kolonialmächte zum Thema seiner Rede. Sie alle, einschließlich Deutschland, hätten bis heute nicht ausreichend Wiedergutmachung geleistet.

Lukas Bärfuss, Schweizer Autor und Theaterregisseur, hielt die Laudatio auf David Van Reybrouck. Seine Rede folgte oftmals lyrischen Stenogrammen, die das Publikum zum Nachdenken anregen sollten: "Der Preis der Freiheit / ist das eigene Leben. / Der Preis der Freiheit ist der eigene Kopf". Widerstand leisten – so wie es die Geschwister Scholl und der Kreis der "Weißen Rose" getan haben – erfordert Mut und uneingeschränkten Einsatz. Genau das habe David Van Reybrouck mit seinem Buch "Revolusi" geleistet. Bärfuss meinte damit etwas ganz Bestimmtes. Bei Umfragen käme heraus, dass ein hoher Prozentsatz der Niederländer stolz auf ihre koloniale Vergangenheit sei. Reybrouck stelle sich dem entgegen und wolle das Bewusstsein ändern: "Seht / was geschehen ist / Seht und schämt euch / schämt euch für eure Verbrechen". Und das Fazit daraus: "Wer so redet, wie David Van Reybrouck / wird in der Regel nicht ausgezeichnet / In der Regel wird er geschnitten". Wie die Geschwister Scholl zeige der Autor Mut, Mut gegen die Mehrheitsmeinung anzurennen. Auf seine eigene Generation bezogen meinte Bärfuss: "Bis jetzt wurde Mut in der Gesellschaft nicht wirklich gebraucht. Die Zeiten sind endgültig vorbei."

"Lieber Hans, liebe Sophie" – in seiner Dankesrede sprach David Van Reybrouck die Geschwister Scholl direkt an. Damit gelang es ihm, die Widerstandskämpfer der "Weißen Rose" mit jenen der Befreiung Indonesiens direkt in Verbindung zu setzen. Und er zitierte einen Satz aus dem fünften Flugblatt der Scholls, der diese Vorgangsweise untermauerte: "Der imperialistische Machtgedanke muss, von welcher Seite er auch kommen möge, für alle Zeit unschädlich gemacht werden."

Natürlich wüssten wir alle, so der Preisträger, dass "Imperialismus und Kolonialismus" es auch heute gäbe, aber das sei kein Grund zu resignieren. Man müsse eben den Mut aufbringen weiterzukämpfen. Van Reybrouck erzählte, dass er oft angesprochen werde, welchen Kolonialmacht er als nächstes ins Visier nehme. Nein, so der Autor, es gäbe im Hier und Jetzt Dringlicheres: Die ökologische Schieflage unseres Planeten: "Wir machen einen Fehler, wenn wir die koloniale Weltkarte kennen, aber nicht sehen, wie sehr sie sich fortsetzt in die klimatologische Weltkarte von heute." Nicht nur die Industriemächte müssten daher ökologischer produzieren, sondern man müsste auch den ärmeren Ländern Möglichkeiten zur Hand geben, dies zu tun. Denn eines sei klar: "Wir können nicht dekolonisieren ohne zu dekarbonisieren. Und wir können nicht dekarbonisieren ohne zu demokratisieren." Das Publikum war da mit David Van Reybrouck ganz einer Meinung, applaudierte minutenlang, ihm, der sichtlich bewegt den Geschwister-Scholl-Preis 2023 entgegennahm.

Wir können nicht dekolonisieren ohne zu dekarbonisieren. Und wir können nicht dekarbonisieren ohne zu demokratisieren.

David Van Reybrouck