Carcosa: Neuer Verlag für phantastische Literatur

"Phantastische Weltliteratur"

11. März 2024
von Nils Kahlefendt

In seinem neu gegründeten Carcosa Verlag gibt Hannes Riffel Klassiker aus Science-Fiction und Fantasy heraus – auch für Leser:innen, die mit dem Genre sonst eher fremdeln.

Zukunftsfähig: Hannes Riffel mit Lego-Raumschiff 

Fünf Gehminuten vom Bahnhof Wittenberge, strategisch günstig in der goldenen Mitte zwischen Hamburg und Berlin gelegen, betritt man das Refugium ­eines Bücherfressers. Mögliche Ge­setzesnovellen zur Gebäudedämmung werden schon jetzt über­erfüllt: Regale an jeder Wand, darin, oft in zwei Reihen, Bücher aller Zeiten und Weltgegenden, von griechischer Philosophie über die englische Literatur des Viktorianismus bis zur Gegenwart. Graphic Novels, Lexika, Wörterbücher. Auf dem Tisch die »Lustigen Taschenbücher« seiner Kinder. 

Seit Hannes Riffel mit 16 das erste Mal »The Dispossessed« von Ursula K. Le Guin verschlungen hat (viel später, bei S. Fischer, hat der Übersetzer Riffel dem Roman den Titel »Freie Geister« gegeben), treibt ihn ­Science-Fiction und Phantastik als »Möglichkeitsliteratur« um – in den besten Fällen visionäre Würfe, die nicht nur konstatieren, was alles den Bach runtergeht, sondern den Blick ihrer Leserinnen und Leser öffnen. Ganz im Sinne des Heyne-­Urgesteins Wolfgang Jeschke (1936 bis 2015): »Gegenwartsliteratur«, pflegte der zu sagen, »handelt von der Vergangenheit. Zukunftsliteratur von der Gegenwart.«  

Wieder Zeit für was Eigenes

Riffel hat in Freiburg Verlagsbuchhändler gelernt, Anglistik, Geschichte und Psychologie studiert und mit Freunden eine Buchhandlung für Science-Fiction und Fantasy übernommen. 1998 zog es ihn nach Berlin, wo er die Buchhandlung Otherland in Kreuzberg mitaufbaute, als Literaturübersetzer (unter anderem für Hal Duncan, William Gibson, Stephen King, Joe R. Lansdale) arbeitete, Programmarbeit für Verlage wie Klett-Cotta und S. Fischer machte und parallel den eigenen Indie-Verlag Golkonda betrieb. Zuletzt leitete er für Fischer das Berliner Büro des Science-Fiction/Fantasy-Imprints Tor. Nachdem Fischer das Berliner Team Anfang 2021 aufgelöst hatte, stürzte sich Riffel zunächst in die Übersetzungsarbeit – und will es nun, mit einem eigenen neuen Verlag, noch einmal richtig wissen. 

»Memoranda-Konzern«

Carcosa heißt die Gründung, nach einer geheimnisumwobenen Stadt in einer Kurzgeschichte von Ambrose Bierce. Zwei US-Winzverlage gleichen Namens gab es schon, vor allem aber freut sich Riffel am Gleichklang zu Golkonda, der heute als Imprint von Christian Strassers Europa Verlag weiterlebt. Und auch Riffels alter Spezi, der Memoranda-Verleger Hardy Kettlitz ist mit dabei, der einst mit seinem Sachbuchprogramm bei Golkonda angedockt hatte. Nun ist es um­gekehrt. Die beiden Freunde, die spaßeshalber vom »Memoranda-­Konzern« sprechen, wenn sie über ihre Zusammenarbeit reden, spielen sich die Bälle wieder zu: Kettlitz kümmert sich um Satz, Herstellung und Vertrieb, das Carcosa-Programm entsteht unter Riffels Regie. Es begann mit einem medialen Paukenschlag: Denis Scheck hielt den Spitzentitel, Ursula K. Le Guins 1.000-Seiten-Werk »Immer nach Hause«, bei der ARD in die »Druckfrisch«-Kamera.  

Abgesehen davon, dass ein mit Herzblut vorgetragener Einspieler in der noch immer besten Literatursendung der Republik im Zweifel ein ganzes Startprogramm mitzieht, konnte Riffel kaum etwas Besseres passieren. Er möchte »nicht Genreliteratur für ein Genrepublikum« verlegen – sondern auch Leser erreichen, »die auf Lem, Nabokov, Roberto Bolaño oder David Foster Wallace stehen, aber mit Fantasy fremdeln«. Dem entspricht auch die Ausstattung – wertige Klappenbroschuren oder Hardcover mit Lesebändchen und bedrucktem Vorsatz – sowie das eher zurückhaltende, elegante Design der Bücher Susanne Beneschs (benswerk.com). »Ich wollte auf dem Cover um alles in der Welt keine Nullachtfünfzehn-Raumschiffe oder Drachen!« 
 

Unterwegs auf dem Gipfelweg

Es lohnt sich, bahnbrechende Klassiker wie Samuel R. Delany neu zu übersetzen, auch wenn Spitzenkräfte der Sci-Fi- und Fantasy-Backlist heute für ein paar Euro aus der Grabbelkiste zu ziehen sind. „Jede zweite, dritte Generation erarbeitet sich bestimmte Texte neu“, beharrt Riffel auf der Portalfunktion von Verlagen. Im Herbst kommt mit „Jerusalem“ das 1400-Seiten-Opus magnum von Alan Moore über seine Heimatstadt Northampton; es ist jener Autor, der mit Comics und deren Verfilmungen wie „Watchmen“ oder „From Hell“ ein Millionenpublikum erreichte. Ebenfalls im Herbst startet Bloomsbury „Long London“, eine fünfteilige Fantasy-Serie von Alan Moore; Carcosa konnte sich die deutschen Rechte für einen „zurückhaltend fünfstelligen“ Betrag sichern. „Das wird das Rückgrat des Verlags in den nächsten zehn Jahren.“

 

Der Carcosa-Verlag in Wittenberge

Carcosa & Memoranda auf der Leipziger Buchmesse: Halle 5, E 505

Vor der Revolution: Den ultimativen Einstieg ins Carcosa-Universum bildet der erste Verlags-Almanach, dort schreiben u. a. Julie Phillips über Ursula K. Le Guin, Christopher Ecker über Gene Wolfe, Clemens J. Setz über Samuel R. Delany und Dietmar Dath über Alan Moore. (278 Seiten, 18 Euro)