Kolumne von Veronika Weiss

Lesen ist Arbeit

28. Juni 2021
von Veronika Weiss

Die Arbeit im Lektorat ist für viele ein Traumjob, und die Leidenschaft dafür endet nicht um 17 Uhr. Dennoch, findet unsere Kolumnistin Veronika Weiss, muss das ewige Mit-sich-Ringen, ob die abendliche Zeit fürs Lesen aufs Zeitkonto geschrieben werden darf, aufhören.

„Du bist Lektorin? Du wirst also fürs Lesen bezahlt?!“ Wenn es bloß immer so wäre! Ich bin oft bestürzt, wie viele Branchen-Kolleg*innen Arbeitsstunden, die sie mit Lesen verbringen, unter den Tisch fallen lassen. Gezwungenermaßen, denn wenn der Arbeitstag abends eigentlich geschafft ist, kommt da noch dieses Manuskript, das bis morgen um zehn Uhr geprüft sein muss. Und in der Bahn oder auf der Couch sitzen und schmökern – das kann man mit ein wenig Mühe ja schon als Freizeit sehen. Schließlich haben wir alle schon immer gern gelesen und empfinden das doch als erholsam. Mehr als zehn Stunden Arbeit täglich sind außerdem illegal. Man sollte seine Arbeitsstunden für andere Aufgaben nutzen, die eher Bürotätigkeiten entsprechen. – Wirklich?! In meinen Augen ist diese Einstellung toxisch.

Man sollte seine Arbeitsstunden für andere Aufgaben nutzen, die im Gegensatz zum Lesen eher Bürotätigkeiten entsprechen. – Wirklich?! 

Vom Lieblingshobby zum Traumberuf

Das Schönste am Lektorat ist, dass man sein Hobby zum Beruf macht, dass man also seine Bücherliebe fortan da ausleben darf, wo man dafür bezahlt wird. Fußballer, Fotografinnen, die Modellbauer im Miniaturwunderland oder PC-Spiele-Testerinnen arbeiten auch nicht umsonst, nur weil andere Menschen deren berufliche Inhalte in der Freizeit verorten. Woher kommt also diese Unsitte, einen wesentlichen Teil der Lektoratsarbeit als Privatvergnügen zu deklarieren? Wenn der Auftrag von der Teamleitung lautet, eine Datei durchzusehen, zu bewerten und in einem Termin vorzustellen, dann zählt das zu hundert Prozent zum Job.

Für das Totschlagargument „Augen auf bei der Berufswahl!“ habe ich wenig Verständnis. Niemand teilt den Horden hoffnungsvoller Germanistikstudis mit, dass man außerhalb der Arbeitszeit Manuskripte prüfen muss. Hätten wir dann überhaupt unseren Abschluss gemacht? Wer „Augen auf bei der Berufswahl!“ sagt, erstickt jedes Gegenargument im Keim, denn dieser Satz ist ein Kommunikationskiller, genau wie „Das haben wir schon immer so gemacht“ oder „Das ist eben so“. Solche Sätze müssen alle aus dem Repertoire streichen, die auf einen sachlichen Austausch Wert legen und Berufseinsteiger*innen und Young Professionals ernst nehmen.

Sätze wie "Augen auf bei der Berufswahl!" müssen alle aus dem Repertoire streichen, die auf einen sachlichen Austausch Wert legen und Berufseinsteiger*innen und Young Professionals ernst nehmen.

Work-Life-Balance bitte auch im Lektorat!

Lassen wir doch eine Diskussion entstehen, ein Neudenken des Berufsbilds – oder zumindest einer Facette davon! Unser Hier und Jetzt, in dem so vieles neu definiert und abgemacht werden muss, bietet sich dafür an: Momentan arbeiten viele Verlagsleute von zu Hause aus, wo ohnehin die Gefahr besteht, dass Berufs- und Privatleben verschmelzen. Es ist schwierig genug, sich Pausen einzugestehen, sich zu erlauben, mal nicht erreichbar zu sein und zwischendurch Energie zu tanken. An Strategien für eine bessere Work-Life-Balance und Resilienz wird gerade allerorts gefeilt. Das ist notwendig, und wenn sich in manchen Lektoraten die Erwartung hält, dass nach Feierabend Manuskripte durchgearbeitet werden, dann hinkt die Verlagswelt hinterher.

Noch wichtiger als mit dem Trend zu gehen: Wenn Lesen nicht zur Arbeitszeit zählt, besteht die Gefahr, dass die Ressourcen dafür nicht optimal genutzt werden können. Dann muss das Prüfen schnell nebenher erledigt werden, und so geht die Wertschätzung für diese wichtige Tätigkeit flöten. Sind wir es unserer Bücherleidenschaft, unserem Job und dem Verlagsprogramm nicht schuldig, dem Lesen genauso viel Kraft und ungeteilte Konzentration zu schenken wie Mails oder einer Besprechung?

ZUR KOLUMNISTIN

Veronika Weiss (36) ist in Wien aufgewachsen und hat dort Germanistik und Musikwissenschaften studiert. Nach Praktikum und Elternzeitvertretung arbeitet sie in Hamburg als Lektorin in der Verlagsgruppe HarperCollins (Cora Verlag) und nebenbei frei als Texterin. Im Börsenblatt schreibt Weiss unter anderem über Trends in der Arbeitskultur, Berufseinstieg und Work-life-Balance.