Interview mit Kathrin Kunkel-Razum, Leiterin der Duden-Redaktion

Gendergerechte Sprache: "Es muss nicht die eine Lösung für alle geben"

18. März 2019
von Börsenblatt
Die Leiterin der Duden-Redaktion, Kathrin Kunkel-Razum, bekommt täglich Anfragen von Unternehmen und Behörden, wie denn nun richtig gegendert wird. Ihre Meinung: die perfekte Lösung für alle gibt es nicht. Und das findet sie auch gar nicht weiter schlimm.

Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat sich im November 2018 gegen die Tolerierung des Gendersternchens ausgesprochen. Warum?
Es gab keine Mehrheit dafür. Zum Rat gehören ja neben Deutschland auch Österreich, die Schweiz, Südtirol, Liechtenstein und die deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens. Auch in der deutschen Gruppe gibt es starke Vorbehalte, u.a. wegen fehlender Belege: Die digitalen Korpora, die wir analysieren können, um die Durchsetzung in der Gesellschaft zu prüfen, bestehen im Wesentlichen aus Presseartikeln und in diesen kommt das Sternchen kaum vor.  

Journalisten und Autoren scheinen besonders vehement an einmal festgelegen Schreibregeln festzuhalten.
Den Eindruck teile ich. Ein Argument der Journalistinnen und Journalisten ist, das Gendern würde vom Hauptinformationsinteresse ablenken. Außerdem kommt bei ihnen die Platzbegrenzung ins Spiel. Dass Schriftsteller oftmals Vorbehalte haben, sieht man an der Liste der Erstunterzeichner des Aufrufs des Vereins Deutsche Sprache aus Dortmund.

Wer sind die Treiber? Welche Institutionen und Gruppen fordern geschlechtergerechte Sprache?
Jüngere Menschen sind bei dem Thema sicher sensibler. Weit vorn sind die Universitäten: Im geisteswissenschaftlichen Bereich wird mittlerweile gefordert, dass Bachelor-Arbeiten durchgegendert werden. Für Kinder ist übrigens völlig klar, dass es sich um eine Torhüterin handelt, wenn eine Frau im Tor steht.

Sternchen, Unterstrich, Binnen-I: Welche Schreibweise verwenden Sie?
Ich schreibe tatsächlich sehr verschieden, verwende Sternchen und Binnen-I, am liebsten aber Doppelformen. In jedem Fall achte ich sehr darauf, wen ich wie adressiere.

Warum tun Sie das?
Mir geht es um Präzision. Der Verein Deutsche Sprache wirft dem Duden unter anderem vor, Luftpiratin als eigenes Stichwort im Duden verzeichnet zu haben. Wenn Sie lesen: Luftpiraten entführten das Flugzeug "Landshut" – welches Bild haben Sie dann vor Augen? Es waren aber zwei Männer und zwei Frauen!

Und was ist mit dem Sternchen?
Das Sternchen steht für alle, es ist ein Symbol für die Integration aller Menschen.  Die Ansprache diverser Menschen ist in den aktuellen Diskussionen aber nicht das Hauptthema. Bis sich das Sternchen oder etwas Ähnliches durchsetzt, wird es noch eine Weile dauern, auch wenn in Stellenanzeigen schon überwiegend von männlich / weiblich / divers die Rede ist.  

Seit wann ist gendergerechte Sprache wieder Thema?
Die öffentliche Diskussion verläuft in Wellen. In den 80er-Jahren wurde sie schon einmal vehement geführt. Vor etwa drei Jahren hat das Thema dann wieder Fahrt aufgenommen. Einen Höhepunkt markierte die Protestaktion des Vereins Deutsche Sprache gegen den Duden-Ratgeber "Richtig gendern" auf der Leipziger Buchmesse 2018 und die teils rechtslastigen Kundenrezensionen bei Amazon.

"Vergewaltigung der Sprache", "Ende des Abendlandes" - warum diese Aufgeregtheit?
Ich bin seit 22 Jahren in der Duden-Reaktion, eine dermaßen große Empörung erlebe ich nun – nach der Reform der Rechtschreibung – zum zweiten Mal. Natürlich freuen mich als Linguistin die vielen Diskussionen über Sprache, aber die Aggression, mit der diskutiert wird, finde ich verstörend. Es gibt viele extrem unangemessene Reaktionen. Was wir in unserem E-Mail-Postfach vorfinden, möchten Sie gar nicht wissen.

Aber es hat sich auch einiges getan…
Sehr viel! Auf den jüngsten Dortmunder Aufruf haben jedenfalls fast alle Medien glossierend reagiert mit dem Tenor: Rigoros alles beim Alten lassen, geht nicht mehr. Was also tun? Welche Möglichkeiten gibt es? Wir haben täglich Anfragen bekommen, von Krankenhäusern, Firmen, Behörden, und haben darauf jetzt mit einem weiteren Ratgeber reagiert.

Wie geht es weiter mit dem Gendern? Was ist Ihre Prognose?
Schwer zu sagen, das wird sich entwickeln. Ich finde es überhaupt nicht schlimm, wenn es eine lange Phase des Probierens und Experimentierens gibt. Es muss auch nicht die eine Lösung geben, die für alle gut ist. Sprache ist ein dynamisches Werk, das sehen Sie zum Beispiel auch an der Verwendung von Emojis. Wer hätte gedacht, dass wir zu einer Art Bildsprache zurückkehren würden?

In Schulen muss das Sternchen als Fehler angestrichen werden, an den Universitäten ist es Pflicht – sollte der Rat für deutsche Rechtschreibung sich im Mai nicht doch zur Tolerierung durchringen?
Ich glaube, das braucht noch Zeit.

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Welche Möglichkeiten gibt es? Was empfiehlt der Duden? Wie gehen Verlage und der Buchhandel damit um? Was wünschen sich die Autoren?  Gendern ist das Thema der Woche im Börsenblatt Heft 12, das am 21. März erscheint!