Kommentar zur Debatte um die Buchmessen-Absagen

Die Schule der Behauptungsfreude schließen!

4. März 2020
von Börsenblatt
Leipzig fällt aus, London ist gecancelt, Köln hofft noch: Die Debatte um den richtigen Umgang mit dem Virus aus Wuhan ist weniger vernünftig, als sie zu sein vorgibt. Meint Börsenblatt-Chefredakteur Torsten Casimir.

Nächste Woche hat die Branche also ein paar Tage Corona-frei. Richtige Ferien dürften es nicht werden, denn Rückabwicklungsaufgaben stehen nun an. Aber vielleicht bleibt etwas Zeit für ein paar nachdenkliche Fragen: Wie soll man mit Situationen umgehen, die nach einer Entscheidung verlangen, ohne dass es eine von Fachleuten einheitlich bewertete Sachlage gibt?

Die meisten Teilnehmer*innen der öffentlichen Diskussion haben darauf eine interessante Antwort gegeben: Reagieren wir doch mit Über-Nacht-Umschulung zum Lehrstuhlinhaber für Virologie, wahlweise Epidemiologie, hilfsweise zumindest Risikoforschung! Man wusste rigoros Bescheid. Entweder wusste man, dass einzig und allein eine Absage der Buchmesse vernünftig ist; oder man wusste, dass eine Absage der Buchmesse allein mit der medial befeuerten Hysterie zu tun hat. Viele, die gerade der infektiösen Welt die infektiöse Welt erklären, sind mit dem – der Wissenschaft noch kaum bekannten – Virus schon auf du und du.

Leichten Sinnes und schwer beunruhigt schreibt man dann vor der gestrigen Absage Sätze wie "Die Buchmesseverantwortlichen scheinen ohne Skrupel für einen unvermeidbaren rasanten Anstieg der Fallzahlen flächendeckend in Deutschland sorgen zu wollen" oder, andersrum und am Tag danach, "Die Vernunft steht weltweit unter Quarantäne". Beides kommt aus derselben Schule der Behauptungsfreude, in der gelehrt wird, Meinungen grundsätzlich zu statuieren, statt Sichtweisen mal probehalber vorzuschlagen. Schöne Schwebesätze, die zugeben, dass Abwägen immer eine komplizierte Sache ist, dass der Abwägende, wenn er entscheidet, nicht genau wissen kann, ob er eine gute Entscheidung trifft, sucht man vergebens.

Damit wir uns nicht missverstehen: Leipzig ausfallen zu lassen, London – wie soeben bekannt gegeben wurde – zu canceln, die lit.COLOGNE mit dem rheinlandtypischen Spaßverzichts-Delay wohl demnächst auch abzublasen (Heinsberg legt es ja nahe) sind bzw. wären allesamt hoch respektable Reaktionen auf eine nicht leicht zu bewertende Gefährdungslage. Aber wenn man liest, wie grob auf der einen Seite die öffentliche Debatte dazu läuft, und wie fein andererseits etwa ein Messechef Oliver Zille die Dilemmata seines Teams und die Dynamiken der jüngsten Entwicklung in Worte fasst (zum Interview), liegen doch Welten dazwischen. Es scheint für viele Menschen unvorstellbar geworden zu sein (außer in der Facebook-Zeile "Beziehungsstatus"), den auf Unentschiedenheit deutenden Satz "Es ist kompliziert" hinzuschreiben.

Ist es aber! Für die Messe stand nach einem Jahr intensivster Vorbereitung auf die vier Tage im März nicht nur emotional enorm viel auf dem Spiel. Diesseits von Covid-19-Ängsten läuft nun bei dem großen Feldversuch "Ein Frühjahr ohne Buchmesse" eine bewährte heuristische Frage im Hintergrund mit: Was passiert eigentlich, wenn nichts passiert? Welche Auswirkungen hat die Absage von Leipzig auf mein eigenes Business, welche auf den Buchmarkt insgesamt? In Zeiten, in denen Unternehmen der Branche ihre Ausgaben stets aufs Neue begründen müssen, bedeutet der Ausfall einer Messe selbstverständlich auch eine Gefahr für das Geschäftsmodell "Stände vermieten". Je lauter aber da draußen alle ihre epidemiologischen Gutachten ausfertigen, desto leiser kann drinnen das Controlling seinen kühlen Job verrichten.

Von dieser unbesprochenen Nebenwirkung ganz abgesehen, hätte ich da als freier Mitarbeiter am Lehrstuhl für epidemische Meinungsinfektionen eine Idee: Lasst uns die Schule der Behauptungsfreude für, sagen wir, zwei Wochen schließen. Das wäre ein schwerer Schlag gegen die derzeit rasante Verbreitung von Erregungserregern. Die Virologen sollen derweil an Sars-CoV-2 weiterforschen, bis der Impfstoff kommt. Die zuständigen Behörden sollen unterdessen sinnvolle Einzelfallentscheidungen treffen, die dann umgesetzt werden. Die Krankenhäuser sollen aufpassen, dass sie sich mit der Befolgung von Quarantäne-Regeln für medizinisches Personal nicht bald selbst außer Betrieb setzen. Die Arbeitgeber und Arbeitnehmer aller Länder sollen risikomindernde Verhaltensvorschläge unaufgeregt beherzigen.

Bleibt gesund, Leute!