"Wir Habenichtse" - das "Tagblatt" schreibt über das Fehlen Schweizer Autoren und Verlage auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis:
Wieder einmal hat es nicht gereicht kein Schweizer Autor und kein Verlag hat es auf die Liste der 20 Nominierten für den Deutschen Buchpreis geschafft, den der Börsenverein des Deutschen Buchhandels seit drei Jahren vergibt. Das letzte Mal waren wir doch mit Stamm, Zschokke und Hürlimann sowie dem Zürcher Ammann Verlag vertreten. Was nun? Variante 1: Wir könnten Grenzen für unerheblich erklären. Der Bodenseeraum ist mit Arnold Stadler aus dem Süddeutschen und Michael Köhlmeier aus Vorarlberg repräsentativ vertreten. Die Auswahl ging sozusagen haarscharf an der Ostschweiz vorbei. Variante 2: Wir könnten die Jury diskreditieren. ... Variante 3: Statt schönreden oder schmollen könnten wir dann schelten: Die Schweizer Literatur sei marktfern und verschroben. ... Was dann? Vorweg muss gesagt sein, dass der Grosse Schillerpreis, der wichtigste Literaturpreis hierzulande, im Gegensatz zu Büchner- oder Bachmannpreis ausschliesslich an Autorinnen und Autoren aus der (viersprachigen) Schweiz vergeben wird. Die Landesgrenze als Literaturgrenze wird also tatkräftig von innen her gebaut. Unseren Schriftstellern sei darum geraten, den Wettbewerb sportlich zu nehmen.
"Schießbefehl und Kadavergehorsam in der DDR: Nichts Neues für den, der die Literatur der Ausgebürgerten kennt" - Marko Martin schreibt dazu in der "WELT":
Ob durch Hoyerswerda, Rostock oder Dresden tobende Nazi-Kids als Erben der pseudo-idyllischen "Nischengesellschaft" (O-Ton DDR-Versteher Günter Gaus), ob - wie gerade jetzt in diesen Tagen - aufgetauchte Stasi- oder NVA-Dokumente zu Schießbefehl und Kadavergehorsam: Der politisch korrekte Westmensch, so kein Zyniker, ist stets von neuem degoutiert. Möchte er darüber hinaus als literarisch beschlagener Feingeist gelten, versteht sich dann folgende Frage wie von selbst: Weshalb erfährt man darüber nur aus Zeitungen, jedoch nicht aus Romanen, hat gar die Literatur versagt?Um es einmal etwas rüde auf den Punkt zu bringen: Versagt hat lediglich eine bestimmte selektive Westwahrnehmung, die seit den späten Siebzigern (vorher war die DDR mehr oder minder Terra incognita) derart auf einige wenige Autoren fixiert blieb, dass diese Bewusstseinstrübung noch heute Spuren hinterlässt. Hatte man von einer Christa Wolf tatsächlich erwartet, etwas über die miese Realität des SED-Staates zu erfahren? Wollte man sich mit ihrem Mix aus apolitischer, das heißt die Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur sensibel einebnender Zivilisationskritik, Soft-Feminismus und melancholischer Landschaftsbeschreibung doch eher selbst das Gefühl behaglichen Unbehagens gönnen? Und war der Heiner-Müller-Boom auf westlichen Bühnen nicht lediglich der Anziehungskraft eines "radikal chic" geschuldet, bei dem allerdings keine Schwarzen Panther, sondern Rote Garden aufmarschierten?Während dessen wurde das deutsche, um Repression und Alltag wissende Pendant zu Truman Capotes "Grasharfe", nämlich Reiner Kunzes "Wunderbare Jahre", eher mit genervtem Augenaufschlag in die Niederungen des Literaturunterrichts verbannt. Immerhin: Besonders Aufgeschlossene delektierten sich an Uwe Johnsons "Jahrestagen" (die freilich eher einem eindrucksvoll nordischen Findling denn einem lesbaren Roman gleichen.) Auch das Ende der DDR hat daran nichts geändert: Lob für Günter Kunerts Weltuntergangs-Lyrik, jedoch betretenes Schweigen angesichts seiner Essays über die mentale Diktaturverstrickung ostdeutscher Intellektueller. ... Wer Kenntnis für die aus tiefsten Traditionsschichten kommenden Muster von Verschweigen und Anpassung sucht, für Angst und Großmäuligkeit, aber auch für Beispiele humanen Aufbegehrens, der sollte zuerst einmal die Literatur der Ausgebürgerten und Weggetriebenen lesen. Nicht nur als soziologische Pflichtübung, sondern auch um der literarischen Brisanz willen. Wer etwa schrieb poetischer und präziser über Kindheitserfahrungen als Utz Rachowski in "Der letzte Tag der Kindheit" (der 21. August 1968 an der ostdeutsch-tschechischen Grenze)? Wer schilderte Leipziger Alltagsleben genauer als Erich Loest, wer wüsste etwas über Ostberliner Jugendkultur, gäbe es nicht Christa Moogs "Die Fans von Union"? Fuchs' und Ulrich Schachts Erinnerungen quasi aus dem Inneren des Stasi-Wals, Freya Kliers Tagebuch "Abreißkalender" über ostdeutsche Tümelei und Alltagsrassismus bereits Mitte der achtziger, Hans (heute Chaim) Nolls ebenso elegante wie entlarvende Innenschau der DDR-Elite in "Berliner Scharade" oder dem Roman "Der goldene Löffel", Hans Joachim Schädlichs Prosaband "Versuchte Nähe" über tentakelgleich verbreitete Entfremdung innerhalb eines normierten Gesellschaftssystems oder die Gedichte von Bernd Jentzsch, Guntram Vesper und Helga Maria Novak, in denen die Erinnerungslandschaften ihrer Jugend nicht in ressentimentgeladener Innerlichkeit gegen den "Tand" der großen weiten (West-)Welt ausgespielt werden, sondern zu ästhetisch reizvoller Synthese finden. Bei Jentzsch, seit 1976 im Westen lebend, heißt es: "Ich bin der Weggehetzte./ Nicht der erste, nicht der letzte.// Mein Leib und meine sieben Sinne/ Alles frisch und unversehrt./ Das Leben, das ich nun beginne/ Lebt sich gerade umgekehrt./ Ich bin der Weggehetzte./ Nicht der erste, nicht der letzte.// Mir ist die Welt ins Herz gesprungen./ Mir, dem großen Lausejungen."Womöglich ist dies ja doch nicht nur eine mühevolle Aufarbeitungs-, sondern vor allem eine reizvolle Entdeckungsgeschichte.