In Hanns-Josef Ortheils neuem Roman »Das Verlangen nach Liebe« verfolgen wir ein Paar, die Kunsthistorikerin Judith und den Pianisten Johannes, das sich nach 18 Jahren Trennung in Zürich wiedertrifft und sich zu einem neuen Liebesanlauf aufmacht. Als Johannes dabei über sich selbst und seine Auftritte nachzusinnen beginnt, kommen ihm Vergleiche, die den musikalischen Rahmen sprengen: »Ein Leben lang taten mir deshalb all die Dichter und Schriftsteller leid, die nach ihren Lesungen vom Publikum gestellt oder befragt wurden. Solche Auftritte entbehrten jedweder Eleganz und führten letztlich immer wieder dazu, alle Leidenschaft und alles Leuchten wieder zurück, in die Normalität des Alltags, zu überführen.«
Ja, hat der Mann nicht recht? Wer kennt sie nicht, die unheilvollen Momente nach einer herrlichen Lesung, sagen wir, mit A. L. Kennedy, William Trevor, Wilhelm Genazino oder Annette Pehnt, wenn sich der Veranstalter mit aufmunterndem Blick dem Publikum zuwendet und diesem, noch aufmunternder, die einmalige Möglichkeit verheißt, sich zu Wort zu melden und dem ermatteten Autor alle die zwingenden Fragen aufzudrängen, die der Moderator zu stellen vergaß? Ja, wir wissen um diese Momente, um diese Stecknadelstille, um diese gedehnten Sekunden ... bis endlich ein Wagemutiger den Finger hebt, den Bann bricht und uns, wie es bei Ortheil heißt, mit der »Normalität des Alltags« konfrontiert.
Gewiss, manchmal sind in diesen Augenblicken erfreulich fachkundige Rückmeldungen zu vernehmen, hören wir interessiert zu, wie die Erzählperspektiven des Romans hinterfragt oder die Bezüge zu Joyce, Proust und Nabokov auf die Schnelle abgeklopft werden. Schwieriger schon wird es, wenn die Fragenden Gefallen an ihrem Auftritt finden und sich in einem Co-Referat ergehen, das ihre eigene Belesenheit unter Beweis stellt und partout nicht in irgendeine Frage münden will.
Und ganz ängstlich verengt sich der Blick des Veranstalters, wenn die Frage aller Fragen kommt, wenn endlich Klartext geredet und die Grenze des Fiktionalen überwunden werden soll. Man mag darüber klagen, wie man will, aber recht besehen ist es fast immer der autobiografische Gehalt eines Werks, der die von literaturwissenschaftlichen Theorien unbelasteten Leserinnen und Leser magisch anzieht.
Und wer wollte es ihnen verdenken, kurz nach einer Lesung, bei der von am Bügelbrett gemeuchelten Ehefrauen, gemeinen Überfällen auf Jürgen Flieges Produktionsfirma oder wilden Sexszenen in einer Buchhandlung auf der Schwäbischen Alb die Rede war? »Haben Sie das alles selbst erlebt?« wer sich als Autor derart ungeheuerliche Dinge ausdenkt, darf sich nicht wundern, wenn ihm diese Frage, der Höhepunkt einer Lesung, gestellt wird und der rettende Rotwein in weite Ferne rückt.
Strategien des Reagierens gibt es viele. Ich rate Schriftstellern ein trockenes »Ja, selbstverständlich« zu erwidern, was ihren Glamourfaktor schlagartig erhöht und solchen Veranstaltungen, mit Hanns-Josef Ortheil zu sprechen, »alle Leidenschaft und alles Leuchten« zurückgibt.