Meinung

Lektüren: Alles geht nicht

21. Oktober 2010
Redaktion Börsenblatt
Warum "Krieg und Frieden" nächstes Jahr wieder im Feriengepäck ist. Von Jochen Jung.
Die Sommermonate sind vorbei, die Herbstferien fast abgelaufen – und wieder stellt man fest, was man auch dieses Mal alles nicht gelesen hat. Man hatte extra eine kleine Kiste für die Bücher mitgenommen und schon beim Einpacken gewusst: "Krieg und Frieden" packst du jetzt schon zum vierten oder fünften Mal ein, und Tellkamps "Turm" war auch letztes Jahr schon dabei. Jetzt aber müssen beide – und nicht nur sie – wieder ins Regal und darauf hoffen, dass sie im nächsten Jahr noch einmal eine Chance bekommen.
Was das heißt? Zum einen natürlich, dass man sich irgendwann darüber klar werden muss, dass es Bücher gibt und geben wird, die man nie gelesen hat, obwohl man sogar selber findet, dass man sie kennen sollte. Natürlich ist das eigentlich unvorstellbar; man legt sich doch auch nicht Schillers Werke zu, um höchstens den "Taucher" zu lesen. Aber irgendwelche Statistik-Klugen haben ja eh längst ausgerechnet, wie viele Bücher ein lesender Mensch bei halbwegs gesundem Leben so schafft – gemessen am Bestand so gut wie nichts. Gemessen an dem, was eine anständig sortierte Buchhandlung so im Regal hat, auch fast nichts. Bleibt die Qual der Wahl.
Kürzlich erst erzählte mir eine Buchhändlerin, sie habe noch nie etwas von Kafka gelesen und trotzdem kein schlechtes Leben gehabt. Natürlich habe ich ihr geantwortet: "Sie haben ja keine Ahnung, wie Ihr Leben mit Kafka gewesen wäre." Aber so richtig überzeugend klang das nicht – ausgerechnet Kafka.
Man sagt uns zwar immer, dass Literatur und Leben etwas mit­einander zu tun haben, aber der Beweis dafür, dass gute Literatur ein gutes Leben mit sich bringt, ist anscheinend nicht so einfach. Hatte man nicht gerade am Strand erschreckend viele bestens gelaunte beach reader gesehen, die Tag für Tag lasen, dabei allerdings nie ein sogenanntes gutes Buch zur Hand nahmen? (Trotzdem bewundernswert, wie lange sie auf dem Rücken liegend ihr Lesegut hochhalten konnten).
Wenn man nicht daran glaubt, dass man einen "Bild"-Leser durch einen hübschen Vampir-Roman langsam an Goethe heranführt, dann sollte man die Nichtleser einfach Nichtleser sein lassen und sich vielmehr darum kümmern, dass die Leser Leser bleiben. Ist vermutlich die realistischere Aufgabe. Es genügt ja schon, dass ständig Autoren aus unserer Wahrnehmung verschwinden (zum Beispiel der gesamte Expressionismus, oder auch jemand wie Heinrich Mann oder Wolfgang Schnurre oder, jetzt gerade, einer wie Heiner Müller), schauen wir also, dass uns die Leserinnen nicht verloren gehen.
Gewiss, die Ferien sind nicht die einzige Zeit, in der man lesen kann, so wenig, wie Lesen das Einzige ist, was man in den Ferien tun kann. Vor allem bieten sich da offenbar gewisse körperliche Ertüchtigungen an, die vielleicht nicht olympiareif sind, mir aber doch von einem der muskulösen Herren, die sich da im Sand tummelten, als Ausgleichssport empfohlen wurden. Es tue gut, wenn man sich ein wenig anstrenge.
Ausgleichssport – warum sollte es da eigentlich nicht auch so etwas wie Ausgleichslesen geben? Zwei, drei Seiten täglich aus einem Buch, das ausnahmsweise ruhig ein bisschen anstrengend sein darf, und schon zeigen Kopf und Herz die allerschönsten Muskeln.