Publikationsform oder Plagiat?

4. November 2010
Redaktion Börsenblatt
Im Sortiment von Amazon tauchten unlängst Bücher auf, deren Inhalt lediglich aus zusammenkopierten freien Texten besteht – etwa aus der Wikipedia. Ein neues Geschäftsmodell "Copy & Paste" oder eine logische Konsequenz der Digitalisierung? Ein Kommentar von Dennis Schmolk.
Das Aufregen über neue Sachverhalte gehört zum Volkssport des Deutschen. Ganz besonders gilt das, wenn man in einer eher konservativen Branche mit eingebautem Idealismusdünkel agiert. Es wunderte also nicht wirklich, dass man sich auch im "Aufreger der Woche" (etwas verspätet) diesem Thema widmete. Dort wird beklagt, dass es "rechtens [sei], schlecht übersetzte Wikipedia-Artikel ohne jede Struktur zusammenzukleben und teuer als Buch zu verkaufen" (Börsenblatt 29/10, leider online bislang nicht verfügbar).

 

Mehrere Aspekte dieses "Aufregers" stören mich. Erstens finde ich es viel "aufregender" (in mehrfachem Sinne), dass diese Werke gekauft werden. Hat da etwa der Verfasser eines Artikels der Telepolis recht, wenn er sagt, die meisten der Kunden rekrutierten sich wohl aus „printnostalgischen Professoren, die schon immer einmal wissen wollten, wie ihr in einen Buchrücken gepresster Wikipedia-Eintrag ausschaut“? Oder sind diese von Books LLC auf den Markt geworfenen Titel die neue Generation von PoD-Büchern? In jedem Falle wird Geld damit verdient. Kann man also einem reinen Wirtschaftsbetrieb wie Amazon – der zudem ein so breites Sortiment hat, dass selbst 27.000 Titel dieses Mülls untergehen müssen –  dafür verurteilen, dass er sie verkauft?

Zweitens stört mich, dass die Branche, die sich hier aufregt, ja selbst etwas tun könnte: Man müsste einem solchen Anbieter nur keine beliebigen Mengen an ISBNs zur Verfügung stellen. Sicher wäre es eine schwierige Aufgabe, die unkontrollierte Abgabe von ISBNs zu unterbinden – doch genau dies wäre ein Weg, die Qualität von ISBN-Publikationen aktiv zu heben. Aber halt – darunter litte ja die ISBN-Agentur bzw. ihre große Schwester in London durch geringere Verkäufe, und nicht Amazon, der branchenfremde Branchenriese.

Drittens stört mich – einmal wieder – der Anspruch, dass Printwerke eine eingebaute Qualitätssicherung haben sollen. Dem war noch nie so und dem ist nicht so. Wer sich ansieht, wie viel Qualitätsloses alljährlich (auch von durchaus größeren und älteren Verlagen) zu Markte gebracht wird, sollte sich vielleicht freuen, wenn jemand ein immerhin thematisch anspruchsvolles Buch liest – auch, wenn es aus der Wikipedia zusammenkopiert und strukturell fragwürdig ist. Auch bei Schülern und Studenten richtet dieses Paradigma der heiligen Bücher vermutlich mehr Schaden an, als es die Wikipedia je tun könnte, weil Büchern uneingeschränkt vertraut wird.

Die Digitalisierung hat offene und freie Texte nötig und nachgefragt gemacht. Es bleibt noch abzuwarten, wie lange das aktuell bleibt – auch die Wikipedia wächst nicht mehr exponentiell wie noch vor einigen Jahren. Dass Mittelsmänner zwischen freien Inhalten und althergebrachten Publikationsformen auftauchen, war klar. Dass das Resultat nicht oft befriedigen dürfte auch. Aber wozu sich aufregen? Man muss die Werke nicht kaufen – und kann im Gegenteil dafür sorgen, dass andere Titel nachgefragt werden.