Interview

"Das gedruckte juristische Buch hat keine Zukunft"

11. November 2010
Redaktion Börsenblatt
Der Rechtswissenschaftler Fritjof Haft hat die CD-ROM-Reihe "Normfall Trainer 2.0" (Boorberg) für Jurastudenten entwickelt. Im Interview mit Boersenblatt.net spricht er über die Ursachen schlechter Examensergebnisse und erklärt, warum für Juristen in Ausbildung und Beruf kein Weg mehr am Computer vorbeiführt.

Viele Jurastudenten haben Schwierigkeiten, sich effektiv und effizient auf das Examen vorzubereiten. Gegen Ende ihres Studiums geraten Sie daher zunehmend unter Stress. Woran liegt das?
Fritjof Haft:
Das hat viele Ursachen. Die wichtigste: In den juristischen Prüfungen wird kein Wissen abgefragt, das man lernen kann. Vielmehr werden Rechtsfälle zur Bearbeitung gestellt. Dazu benötigen die Studenten Fertigkeiten. Diese setzen ein Training voraus, das weder in Lehrveranstaltungen noch in Lehrbüchern vermittelt werden kann. Man kann es mit dem Klavierspielen vergleichen. Alles Wissen über das Instrument und Musik nützt nichts, wenn man nicht übt. Juristische Übungsmöglichkeiten gab es bislang aber nicht.

Um welche Fertigkeiten geht es denn genau im Jurastudium?

Die Studenten müssen zwei Grundfertigkeiten trainieren, das Strukturdenken und das Normalfalldenken. Strukturdenken ermöglicht es ihnen, Fälle anhand von juristischen Strukturen, die sie bei Bedarf anhand der Gesetze und der juristischen Dogmatik selbst bilden müssen, fachgerecht zu bearbeiten. Und das Normalfalldenken hilft ihnen dabei, die vielen Problemfälle, die im Studium und im Examen dominieren, als Abweichung von Normalfällen zu analysieren und mit Argumenten vertretbar zu entscheiden.

Wie kann der Computer beim Erwerb dieser Fertigkeiten helfen?

Er ermöglicht erstmals ein Training, durch das die beiden genannten Fertigkeiten anhand von Fällen eingeübt werden können.

Und wie hat das früher ohne Computer funktioniert?
Überhaupt nicht. Die schlechten Noten in den juristischen Prüfungen belegen dies genauso wie die Berufstätigkeit vieler Juristen. Gute Anwälte sind noch seltener als gute Ärzte. Nehmen Sie als Beispiel das Steuerrecht. Kaum ein Anwalt oder Richter beherrscht es, obwohl es zum Recht gehört. Der Bundesgerichtshof hat hier sogar die Beauftragung von Gutachtern zugelassen – das ist unglaublich. Gutachter erklären dem Gericht deutsches Recht.

Am Computer führt also kein Weg mehr vorbei?
Nein. Allerdings gilt die Nutzung der modernen Informationstechnik in Deutschland unter vielen Juristen immer noch als Inbegriff des Inhumanen und wird deshalb heftig abgelehnt. In keiner anderen Disziplin gibt es so etwas. Deshalb haben wir die Chancen des Computers im Recht bislang nicht ergriffen. Heute müssen wir dieses Denken überwinden. Dazu gibt es keine Alternative. Ohne den Computer wird weder das Lernen noch später die Berufsausbildung gelingen.

Wie funktionieren die "Normfall Trainer 2.0"-CDs?
Entscheidend ist beim Einsatz des "Normfall Trainers" die Aktivität des Studenten. Er muss bei jedem Strukturpunkt überlegen, wie der jeweils nächste Schritt aussehen wird. Damit erwirbt er anhand einer begrenzten Stoffmenge die methodischen Fähigkeiten für eine unbegrenzte Vielzahl und Vielfalt von Fällen. Das Auswendiglernen von Definitionen hilft dagegen methodisch nicht weiter. Die Zahl der Definitionen wie der Fälle ist viel zu groß, als dass dies möglich wäre.

Immer mehr Verlage setzen zumindest auch auf digitale Angebote. Haben gedruckte Lehrbücher auf Dauer überhaupt noch eine Zukunft?
Das gedruckte juristische Buch hat keine Zukunft. Das gilt nicht nur für das Lehrbuch, sondern auch für Kommentare, Monografien und sonstiges juristisches Schrifttum. Im literarischen Bereich ist das anders. Da gehört zum Lesen die Freude am Buch. Im Recht geht es dagegen um den Zugriff auf Informationen, so rasch und so gut wie nur möglich.

Wie beurteilen Sie den derzeitigen Stand der Technik in diesem Bereich?
Wenn die Verlage gedruckte Texte mit ein paar IT-Anreicherungen, etwa Hypertextfunktionen, versehen und ins Internet stellen, so handeln sie wie Gutenberg, dessen Bibel so aussah, als wäre sie von Hand geschrieben. Auch die Erfinder des Automobils handelten so, als sie ihm die Gestalt einer Pferdekutsche gaben. Erst allmählich merkte man, dass diese Erfindungen ganz neue Möglichkeiten eröffneten. Die Verlage sind durchweg noch in der Kutsche unterwegs. Von der vollen Nutzung der Möglichkeiten der Technik sind sie meilenweit entfernt.

Welche Pläne haben Sie selbst für die Zukunft?
Ich habe eine Professur an der neu gegründeten privaten EBS Law School der EBS Universität in Wiesbaden übernommen und plane, dort alle Möglichkeiten des IT-gestützten Lernens zu realisieren, die Forschung zu Computers and Law voranzubringen und auch das Thema Konfliktmanagement einzubringen. Dabei geht es zum Beispiel um den strukturierten Informationsaustausch zwischen streitenden Anwälten beziehungsweise Mandanten und Gerichten. Das seit der Antike im Prinzip nicht mehr modifizierte Modell des kontradiktorischen Gerichtsverfahrens könnte auf diese Weise substantiell verbessert werden – dank moderner Informationstechnik. Wir stehen mitten in der dritten Medienrevolution.

Zur Person:
Fritjof Haft (70) war von 1982 bis zu seiner Emeritierung 2005 Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsinformatik an der Eberhard Karls Universität Tübingen. 1999 gründete er die Normfall GmbH in München. Das Software-Unternehmen hat sich auf Lern-, Entscheidungs- und Informations-Tools für Juristen spezialisiert. Hafts Vision ist es, Beiträge zum besseren Umgang mit Komplexität und Informationsdefiziten in der modernen Gesellschaft zu leisten.

Mehr zum Thema computergestütztes Lernen für Juristen lesen Sie im aktuellen Börsenblatt-Extra RWS, Heft 45/2010.