Meinung

Die Diktatur des Infoknechts

25. November 2010
Redaktion Börsenblatt
Wie der Computer die Arbeit des Schriftstellers verändert. Von Burkhard Spinnen.
Ein schöner, taufrischer Morgen. Der Dichter betritt seine Klause. (Na ja. Ich gehe in das Zimmer, in dem mein PC steht.) Der Dichter greift zur Feder. (Ich fahre den PC hoch.) Der Dichter formuliert eine Szene, die er beim Morgenspaziergang ausgesponnen hat. Er schreibt, bis er zu dem Punkt kommt, an dem er eine kleine ­Sachinformation bräuchte, um weiter zu kommen. Folglich bittet er den dezent lackierten Informa­tionsknecht unter seinem Schreibtisch, loszulaufen und das Gewünschte zu besorgen, vielleicht eine Stadtansicht von Nördlingen oder den Namen eines Lippenblütlers. Prompt liefert der Knecht das Gewünschte, und der Dichter kann weiter schreiben.


Ja, denkste! Oder anders gesagt: schön wär’s. Denn kaum will ich via Suchmaschine eine kleine Sachanfrage in die Magazine des Weltwissens schicken, da blökt mich mein Knecht schon an.
"Ach ne!", krakeelt er. "So’n paar Kleinigkeiten möchts’de wissen! Aber der janze jroße Rest vonne Welt is dir schnuppe, wa?" Und während ich noch zaghaft zu formulieren suche, dass Dichten gerade auch Auswählen heiße, öffnet der Knecht seine x-dimen­sionalen Leporellos und schlägt sie mir über die Augen: Luftaufnahmen von jedem Hinterhof der Welt, eine Auflistung aller Schmalspur­eisenbahnen in Osteuropa, 649 Versionen von Gershwins »Summertime«, eine reich bebilderte Geschichte der Technik und und und …

Ganz im Ernst: Ich bewundere und beneide jeden, der das Informationsangebot des Internets so zu nutzen weiß, wie ich früher die Angebote der Bibliotheken nutzte: nämlich ausschließlich punktuell, auf der Suche nach genau der Antwort auf genau die Frage, die während der Arbeit und nur aus ihr aufgetaucht war. Heute aber sehe ich mich durch die schiere Präsenz des Netzzugangs mit Milliarden von Antworten konfrontiert, vor denen sich meine Fragen geradezu jämmerlich ausmachen. Mein Wissensdurst kann noch so groß sein, gemessen an dem Wissens­angebot des Netzes muss ich mir wie ein bornierter Ignorant vorkommen.
    

Auch in der Schreibstube des Dichters droht eine Diktatur des Hausknechts. Der PC mit Netzanschluss ist dabei, das Verhältnis von Frage und Antwort, von Text-Idee und Recherche umzukehren. Immer weiß er so viel mehr, als ich zu fragen weiß. Immer brandmarkt er meine Neugier als Ignoranz. Bis er schließlich behauptet, nicht ein Hilfsmittel zur Erkundung der Welt, sondern die Welt selbst zu sein. Und wer bin ich? Kein autonomes Individuum, das sich und anderen die Welt denkt, sondern bloß ein überforderter Abonnent von Daten.


Übertreibe ich? Nein. Die schlimmsten Diktaturen sind die, die sich als Dienstleistungen tarnen, wenn nicht gar als Einlösung uralter Menschheitswünsche. Als die Aufklärer vor über 250 Jahren die Enzyklopädie träumten, eine Sammlung des Weltwissens für alle, da ahnten sie nicht, wie es sein würde, wenn sich ihr Traum einmal erfüllte. Heute, da ich ein paar Millionen Enzyklopädien unterm Schreibtisch hocken habe, gehe ich krumm gebeugt unter der Last ihrer Angebote. Und mein präsentestes Wissen ist das um die Menge dessen, was ich niemals wissen werde.


Schluss für heute. Der Dichter schickt seinen Knecht aus dem Raum. (Ich fahre den PC herunter.) "Und wieder Dunkel, ungeheuer/im leeren Raum um Welt und ich." (Gottfried Benn, eben gegoogelt)