Lesetipp: "Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte"

Die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit

20. Juli 2015
von Börsenblatt
Wieso sind Krimis eigentlich so beliebt? Was sagt die so zahlreiche Produktion von Kriminalliteratur und deren intensiver Konsum über unsere Gesellschaft aus? Der französische Soziologe Luc Boltanski sieht eine enge Verknüpfung zwischen der Kriminalliteratur, der modernen Gesellschaft und dem Paranoia-Diskurs in der Psychiatrie.

Kriminalliteratur spiegelt die doppelbödige Wirklichkeit, versucht sie zu überbieten, und wird häufig genug von realen Verbrechen oder Komplotten überboten. Sie eröffnet, wie Luc Boltanskis Buch zeigt, einen Reflexionsraum, in dem die moderne, in sich verunsicherte Gesellschaft über sich nachdenkt. Dazu passt die Etablierung der Paranoia als Krankheitsbild in der Psychiatrie, die ihr Gegenbild in den zahlreichen Verschwörungstheorien findet, die Ende des 19. und seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Umlauf sind. Es genügt ein leicht verzerrter Blick, um die Welt vollkommen anders – und nicht selten bizarr – zu deuten.

Am Beispiel von Detektivromanen (von Arthur Conan Doyle und Georges Simenon) und Spionageromanen (Gilbert Keith Chesterton und andere) spielt Luc Boltanski die Figuren des Rätsels, des Komplotts und der Untersuchung durch. Er versucht zu verstehen, "warum diese Figuren für die Vorstellung von der Realität seit dem Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder eine so bedeutende Rolle gespielt haben", heißt es im Vorwort. Und er deutet sie als Schlüssel für das Verständnis der modernen Gesellschaft.

Besonders fruchtbar für den Dialog von Kriminalliteratur und Soziologie scheint die Figur des Komplotts zu sein. Hinter ihr verbirgt sich, ob im politischen oder im fiktionalen Rahmen, die Frage nach der Machtausübung: "Wo befindet sich die Macht wirklich, und wer hat sie in Wahrheit inne? Die staatlichen Autoritäten, die diese Last eigentlich auf sich nehmen sollen, oder andere Instanzen, die im Dunkeln agieren, Bankiers, Anarchisten, Geheimbünde, die herrschende Klasse usw.?"

Bis heute haben Thriller Konjunktur, die der Realität hinter der Realität auf der Spur sind und ihre ermittelnden Protagonisten nicht selten in den Wahn treiben (wobei sich der Kreis zur Paranoia wieder schließt).

Boltanskis Buch ist eine in vielerlei Hinsicht erhellende Untersuchung, die manchmal selbst mit einem leicht verschobenen Blick auf die Dinge arbeitet. Nach der Lektüre sollte sich die Einsicht verbreiten, dass der Kriminalliteratur (zumindest der phantasievollen, gut geschriebenen) ein höherer Rang gebührt als gemeinhin akzeptiert.

 

Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft. Aus dem Französischen von Christine Pries. Suhrkamp, 515 Seiten, 39 Euro