Reportage: Finale des Vorlesewettbewerbs

Lesen wie alte Hasen

16. Juli 2015
von Sigrid Rautenberg
Auch ohne langjährige Sprechausbildung lesen die Kandidaten im Bundesfinale des 56. Vorlesewettbewerbs wie Profis. Drei Minuten können viel zu kurz sein, wenn bei den Zuhörern das „Kino im Kopf“ gerade angelaufen ist. Am Ende gewinnt die 12-jährige Leonie Reinhardt aus Thüringen.

Alyssa Luck ist aufgeregt. Gleich wird die Sechstklässlerin aus dem Saarland vor Jury, Publikum und Fernsehkameras vorlesen. Sie hat sich „Wildboy. Die Stimme des weißen Raben“ ausgesucht, denn sie liebt Fantasy. Die Hauptperson im Buch, ein 13-jähriger Junge, lebt in einem Baumhaus und spricht die Sprache der Raben; er meidet Menschen, nur zu einem Mädchen fühlt er sich hingezogen. Ganz frei ist die Wahl des Lesestoffs übrigens nicht – erst am Vortag durften sich die 16 Landessieger, die bereits seit drei Tagen in Berlin sind, aus rund 30 Büchern drei aussuchen. Aus denen wiederum wurde ihnen dann eines zugelost. Alyssa ist glücklich, denn sie mag ihr Buch. Die Betreuer halfen den jungen Vorlesern dann, eine gute Stelle zu finden, stoppten die Zeit und gaben Tipps für den großen Auftritt.

Um hier beim Bundesfinale des Vorlesewettbewerbs dabei sein zu können, musste jeder Landessieger zunächst bester Vorleser seiner Klasse werden, dann seiner Schule, seines Bezirks oder Kreises und schließlich des Bundeslands. Allein das ist eine großartige Leistung. Denn wer weiterkam, musste in jeder Runde aus dem Buch eines anderen Autors vorlesen, sich also immer wieder ein neues Buch aussuchen, eine geeignete Textstelle überlegen und üben. Außerdem bekam jeder einen Fremdtext.

 

Rund 575.000 Schülerinnen und Schüler der sechsten Klassen aus knapp 7.200 Schulen haben in diesem Jahr am Vorlesewettbewerb teilgenommen. 50 Prozent aller teilnahmeberechtigten Schulen haben mitgemacht, vier Prozent weniger als im Vorjahr. Nicht verändert haben sich die Lieblingsbücher: Nach wie vor sind die drei größten Hits „Gregs Tagebücher“,  „Harry Potter“ und die „Rico, Oscar ...“-Bände; der große Aufsteiger, allerdings nur unter den Mädchen, ist die Pferdegeschichte „Ostwind“.

 

Kino im Kopf

Im Studio A des Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) gehen die Lichter an, die Kameras laufen. Schon beim Warm-up herrscht eine Wahnsinnsstimmung im Studio, einige Schulklassen sind eigens angereist, um ihren Mitschüler oder ihre Mitschülerin zu unterstützten, was sie auch lautstark tun. Jetzt tickt die Uhr, jeder hat drei Minuten Zeit, die Zuhörer zum Lachen oder Weinen zu bringen, sie mitzureißen mit ihrer Geschichte. „Kino im Kopf“ zu erzeugen, das ist das Ziel. Erstaunlich ist, wie unterschiedlich die Sechstklässler an ihre Texte herangehen. 

Paul Schappert etwa aus Bayern scheint sich beim Lesen selbst zu amüsieren, in der Textstelle geht es um diverse Schwierigkeiten mit einem Physiklehrer. Beim Lesen will er, wie die meisten, lieber sitzen anstatt am Pult zu stehen. Damit er nicht so zittert.

 

Brillant auch Leonie Smolenski aus Berlin, die mit ihrer recht tiefen, fast coolen Stimme sämtliche Gefühlsnuancen auszudrücken vermag – sie liest von einem Jungen, der zum ersten Mal seinen leiblichen Bruder trifft. Wenn im Buch „er schüttelt den Kopf“ steht, dann schüttelt sie ihren. Immer wieder schaut sie das Publikum an und nimmt es mit. 

Manche legen geradezu schauspielerisches Talent an den Tag, wie Ben Luca Thetmeyer aus Nordrhein-Westfahlen. Er spielt fast mehr, als er liest. 

Nur ein einziges ernstes Buch ist dabei. In der Geschichte, die James Gornall aus Niedersachsen gewählt hat, geht es um die Flucht aus dem Warschauer Ghetto. Die Szene ist überaus spannend. Leise, eindringlich liest er, flüstert laut, gestikuliert. Durch den Wechsel in Betonung und Lautstärke fesselt er das Publikum. „Alter Schwede“, ist auch Juror Kai Lüftner begeistert. „Manche gehen dafür jahrelang auf die Schauspielschule!“

Endlich ist Alyssa an der Reihe. Mit dem rbb-Moderator Marc Langebeck plaudert sie zunächst locker über eines ihrer Hobbys, den Gardetanz. Kaum ist der Anfangsapplaus verstummt, legt sie los. Sie ist konzentriert, von Aufgeregtheit keine Spur. Geradezu professionell setzt Alyssa Spannungspausen, variiert mit ihrer Stimme. Die Schauspielerin und Jurorin Maria Wedig findet Alyssas Auftritt super, ist berührt.

 

Begeisterte Jury

Die fünfköpfige Jury bestand in diesem Jahr aus Vorjahressieger Luis Omer Džananović, dem Kinder- und Jugendbuchautor und Musiker Kai Lüftner, der Hörbuch-Verlegerin Angelika Schaack, KiKA-Moderator Felix Seibert-Daiker und der Schauspielerin Maria Wedig. Zweimal ziehen sie sich zur Beratung zurück. Es gibt klare Richtlinien bei der Bewertung, und jedes Mitglied notiert unabhängig seine Punkte.

 

Zwischen all den „Hörspielen“ gab es auch einen Show-Act: Der erst 16-jährige Rapper Kamyar reißt Kinder und Erwachsene gleichermaßen mit. Einen Song performte er sogar gleich zweimal – dank einer technischen Panne im Studio.

Seit 1959 organisiert der Börsenverein des Deutschen Buchhandels jährlich den Vorlesewettbewerb. Die größte und erfolgreichste Leseförderungsinitiative Deutschlands steht unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten und wird gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Caren Marks als parlamentarische Staatssekretärin begleitet die Siegerehrung.

Der Vorsteher des Börsenvereins, Heinrich Riethmüller, ist durchweg angetan. Er findet sowieso, so sagte er im Vorfeld, „dass der Vorlesewettbewerb eines der schönsten Formate ist, die der Börsenverein aufgestellt hat.“ Nun jedoch ist er heilfroh, dass nicht er die Entscheidung treffen muss.

And the winner is …

Schließlich hat die Jury, „nach einer Kampfabstimmung“, eine Siegerin gefunden. Leonie Reinhardt, die als letztes an der Reihe war, ist die strahlende Siegerin. Sehr gut hat sie in ihrer Textstelle aus „Die Buchspringer“ die Rollen differenziert, immer wieder nach oben geschaut und Publikumskontakt gesucht. Es ist ihr gelungen, ohne Zweifel.

Alyssa Luck hat am Ende nicht gewonnen. Etwas betrübt steht sie am Ende mit ihrem Vater am Rande der Bühne. Doch gegönnt hat sie auch jedem anderen den Sieg.